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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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absolut keine Lust, ihren kostbaren
     freien Tag damit zu verplempern.
    Die Alte war am frühen Morgen aus dem Haus gegangen. Die Direktorin wusch Wäsche. Kolja fand es eigenartig, sie im Hauskittel
     und ungeschminkt zu sehen. Auf dem Kopf trug sie statt ihrer üblichen hochtoupierten Frisur ein altes Tuch.
    Nach dem Frühstück saß Kolja auf einem Stuhl und las. Schon am Abend zuvor hatte er im Regal über dem Schreibtisch der Direktorin
     ein dickes Lehrbuch mit dem interessanten Titel »Kinderpsychiatrie« entdeckt. Er suchte im Inhaltsverzeichnis nach seiner
     Diagnose und bemühte sich nun, die komplizierten medizinischen Formulierungen zu begreifen. Er verstand nur jedes zweite Wort,
     wagte aber nicht, die Direktorin etwas zu fragen. Sie sollte nicht wissen, was er da las. Doch sie schien sich sowieso nicht
     um ihn zu scheren. Sie kam nur selten ins Zimmer, meist war sie im Bad oder in der Küche.
    Da klopfte plötzlich jemand an die Tür. Draußen stand Koljas nächtlicher Gesprächspartner, Onkel Sachar. Er trug einen modischen
     Pullover und eine derbe Hose.
    »Zieh dich an«, sagte er fröhlich, »wir gehen ins Kino. Ich hab mit deiner Chefin gesprochen.«
    Das war der erste wirklich glückliche Tag im Leben des kleinen Skwosnjak. Sachar ging mit ihm in den Film »Die neuen Abenteuer
     der unsichtbaren Rächer«, anschließend aßen sie in einem Restaurant. Das alles kam dem Jungen keineswegs vor wie ein Märchen
     – genauso stellte er sich seine Zukunft vor, genauso sahen für ihn die »besseren Zeiten« aus, die in seinem Leben eines Tages
     zweifellos anbrechen würden.
    Der Tag mit dem zweifach vorbestraften Dieb Sachar, bürgerlich Gennadi Sacharow, war der erste Vorbote der kommenden besseren
     Zeiten.
    Sachar brachte ihn am späten Abend auch zurück ins Heim.
    »Also dann, Kolja Skwosnjak, ich werde dich ab und zu besuchen kommen. Du bist ein interessanter Junge, noch so klein und
     schon ungerecht verurteilt«, sagte er zum Abschied und zauste ihm wieder zärtlich das Haar.
    Am folgenden Sonntag nahm Galina Georgijewna Kolja nicht wieder mit zu sich. Das hatte er auch nicht erwartet. Aber Onkel
     Sachar besuchte ihn tatsächlich, wie versprochen. Allerdings kam er nur für ein Stündchen vorbei und brachte ihm Apfelsinen,
     Schokolade und Räucherwurst.
    »Das nehmen sie dir womöglich weg, oder?« fragte er, als er ihm das Päckchen übergab.
    »Das soll mal einer versuchen!« Skwosnjak funkelte mit den Augen.
    »Prima, Skwosnjak. Was ich dich noch fragen wollte – rauchst du?«
    »Nein. Die Jungs sammeln Kippen auf, aber das finde ich eklig. Höchstens, wenn ich eigene Papirossi hätte.«
    »Nein.« Sachar schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht rauchen. Und auch nicht trinken. Klar?«
    »Klar.« Skwosnjak nickte. »Werde ich nicht.«
    »Na schön, geh jetzt. Ich komme nächste Woche wieder vorbei.« Er drückte ihm die Hand wie einem Erwachsenen, dann ging er
     vor ihm in die Hocke und umfaßte seine Schultern. »Aber eine Mama hast du doch einmal gehabt. Und sie hat dich geliebt, wenigstens
     eine Stunde lang …«
    In der Nacht schlich sich Skwosnjak ins Archiv und suchte seine Akte heraus. Zwischen medizinischen Befunden und Ausgabequittungen
     für Kleidung und Schuhe entdeckte er ein vergilbtes kariertes Blatt Papier. Darauf stand in klarer, schöner Handschrift:
    »An den Chefarzt der Moskauer Entbindungsklinik Nr. 32, Gen. Potapow K. G.
    von Genn. Lukjanenko J. I.
    Erklärung
    Ich, Julia Igorewna Lukjanenko, geb. 1944, wohnhaft Moskau, Kondratjew-Straße 10 a, im Wohnheim der Schuhfabrik Nr. 4, verzichte
     auf das Kind, das ich am 22. April 1963 geboren habe. Ich verpflichte mich, künftig keinerlei materielle oder sonstige Forderungen
     zu stellen, weder an eventuelle Adoptiveltern des Kindes noch an das von mir geborene Kind bei Erreichung seiner Volljährigkeit.
    5. Mai 1963.«
    Dann folgten mehrere Unterschriften und ein Stempel.
    Kolja faltete das Blatt ordentlich zusammen, steckte es in die Hosentasche, stellte seine Akte wieder an ihren Platz und verließ
     leise das Archiv.
    Onkel Sachar hatte also recht. Er hatte eine Mutter gehabt. Vom zweiundzwanzigsten April bis zum fünften Mai war eine Frau
     namens Julia Lukjanenko seine Mutter gewesen. Zwei Wochen hatte sie immerhin überlegt, bevor sie die Verzichtserklärung schrieb.
     Womöglich hatte sie ihn im Arm gehalten. »Sie hat dich geliebt, wenigstens eine Stunde lang …«
    Er besaß den Schlüssel zu einer winzigen

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