Keiner wird weinen
identifizieren. Offensichtlich war er bisher nicht
vorbestraft. Es gab also keinen einzigen realen Anhaltspunkt.
Nur ein unscharfes Foto, eine Vergrößerung von einem Gruppenfoto, das Skwosnjak zusammen mit drei anderen Mitgliedern der
Bande zeigte. Auch das war ein Wunder, daß Skwosnjak sich in dem kleinen Café überhaupt hatte fotografieren lassen und der
Film erhalten geblieben war.
Außerdem war bekannt, daß er einmal sehr eng befreundet gewesen war mit dem inzwischen verstorbenen Kriminellen Sachar, einer
Autorität der alten Schule, daß er die Erinnerung an ihn hochhielt und hin und wieder sein Grabbesuchte. Ja, und natürlich, daß er Karate beherrschte. Das war eigentlich schon alles.
Bei den Kriminalisten hatte sich sogar eine Art geflügeltes Wort etabliert: Auf Skwosnjak stoßen. Was etwa das gleiche hieß
wie die Stecknadel im Heuhaufen suchen oder den Wind im Feld.
Die vergebliche Suche nach Skwosnjak kostete viel Zeit und Kraft, die akribische Ermittlungsarbeit führte jedesmal in eine
Sackgasse. Aber immer blieb die Hoffnung, daß Skwosnjak früher oder später selbst auftauchen, einen Fehler machen oder die
Nerven verlieren würde.
Schließlich existierte kein Mensch, und sei er noch so vorsichtig, erfahren und schwer zu fassen, im leeren Raum, er mußte
irgendwo übernachten, sich irgendwie ernähren, er kam unausweichlich mit Menschen in Kontakt. Irgendwann einmal würde ihm
ein Fehler unterlaufen. Und jemand, der ihn gesehen oder gehört hatte, würde es ausquatschen, irgend jemand würde Schiß bekommen
und ihn verraten. Große Kriminelle, die nie gefaßt wurden, sind in der Geschichte der internationalen Kriminalistik selten.
Undenkbar, daß Skwosnjak einst in einer Reihe stehen würde mit dem berühmten Londoner Jack the Ripper, daß sein Name ein ewiges
Geheimnis bleiben und er selbst zu einer blutigen Legende werden könnte.
Major Uwarow war es nicht gewohnt, sich auf seine Intuition zu verlassen. Er mußte alles genau einordnen, eine klare, logische
Kette konstruieren, erst dann zog er seine Schlüsse. Allerdings gab es ein intuitives Gefühl, das sich bei ihm ziemlich selten
meldete und dem er darum vertraute. Für sich definierte er diese besondere kriminalistische Unruhe als »ein Jucken im Gehirn«.
Und nun, während er seinen Freund und Kollegen Malzew vom Friedhof zurückerwartete, spürte er dieses »Jucken im Gehirn«.
Vor zwei Stunden hatte eine junge Mutter, die im selben Haus wohnte, im vierten Stock, nach einem Blick auf einFoto von Wolobujew gesagt: »Klar hab ich den gesehen! Mein Kinderwagen war im Fahrstuhl eingeklemmt, zwischen den Türen. Ging
nicht vor und nicht zurück. Da kam er zum Glück ins Haus und hat mir geholfen.«
»Wann war das?« fragte Uwarow.
Die Frau zuckte die Achseln. »Gegen sieben, genau kann ich das nicht sagen. Wissen Sie, ich hatte meine Uhr zu Hause vergessen,
und außerdem war ich sehr nervös, das Kind weinte …«
»Und sonst haben Sie niemanden gesehen?«
»Nein. Außer uns war niemand im Treppenhaus.«
Als Uwarow nun in seinem Büro in der Petrowka saß und einen inzwischen kalten starken Tee schlürfte, überlegte er, daß bislang
alles ziemlich logisch war. Dem Karatemeister war es egal, wo er Wolobujew tötete. Malzew hatte recht, es ging ihm nicht um
Rache oder um irgendeine Demonstration. Er hätte ihn auch im Hausflur erledigen können, aber da hatte die Frau mit dem Kind
gestört. Deshalb hatte er es riskiert, in die Wohnung hinaufzugehen.
Er hatte das Telefongespräch gehört, er wußte die Zeit, ihm war klar, daß Wolobujew sehr früh dran war, und kalkulierte, daß
derjenige, mit dem er verabredet war, kaum noch früher gekommen war.
Hauptmann Malzew kam ins Büro gestürmt, klitschnaß, keuchend und gut gelaunt.
»Es gießt wie aus Eimern«, verkündete er, während er sich an seinen Schreibtisch setzte. »Hör mal, du wirst lachen, aber auf
Sachars Grab stehen tatsächlich frische Blumen. Vier weiße Rosen.«
»Na, da gibt’s erst mal nichts zu lachen«, sagte Uwarow leise, bemüht, gelassen zu bleiben. »Sachar war ein berühmter Mann.
Viele erinnern sich an ihn und halten ihn in Ehren.«
»Stimmt.« Malzew nickte und öffnete mit der Geste eines Zauberkünstlers einen schäbigen alten Aktenkoffer. »Aberdie Kerzenverkäuferin in der Friedhofskapelle, eine relativ junge Frau mit guten Augen, hat heute in der Kapelle nach der
Morgenandacht den hier gesehen.«
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