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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Hörer.
    »Guten Tag«, sagte eine tiefe Männerstimme, »ist Ihnen ein roter Irischer Setter entlaufen, ein Rüde?«
    »Ja, das sind wir«, sagte Vera, die ihr Glück noch gar nicht fassen konnte, leise. »Sagen Sie, trägt er ein Schild um den
     Hals mit einer Telefonnummer?« Sie nannte ihre alte Telefonnummer.
    »Ja. Möchten Sie den Hund gleich abholen? Wie heißt er übrigens?«
    »Matwej. Ja, wir kommen, wohin Sie wollen, wann immer es Ihnen paßt.«
    »Ich erwarte Sie in einer halben Stunde vor dem Feinkostladen an der Ecke. Wissen Sie, wo das ist? Gegenüber ist ein Fotoatelier.«
    »Ja, natürlich! Vielen herzlichen Dank. Verzeihen Sie, wie heißen Sie?«
    »Fjodor. Und Sie?«
    »Vera.«
     
    Matwej zerrte an der Leine, jaulte aufgeregt und wedelte wie wild mit seinem langen, buschigen Schwanz. Vor Freude nahm Vera
     den nicht sehr großen hageren Mann um die Dreißig namens Fjodor gar nicht recht wahr. Zumal sie keine Brille aufhatte.
    »Wissen Sie, er hat die ganze Zeit kaum gefressen. Er war sehr aufgeregt.«
    »Wir auch«, sagte Sonja seufzend. »Wir sind Ihnen sehr dankbar.«
    Vera holte zwei Hunderter aus ihrer Tasche.
    »Das ist für Sie. Vielen Dank.«
    »Nicht doch, Vera!« Die Stimme des jungen Mannes klang aufrichtig gekränkt. »Wie kann man dafür Geld nehmen?«
    »Aber ich habe doch auf dem Zettel einen Finderlohn versprochen.«
    »Wir würden gern mehr geben, aber wir haben uns gestern an einen Suchdienst für entlaufene Tiere gewandt«, erklärte Sonja,
     »und die haben uns dreitausend abgeknöpft.«
    »Seien Sie so gut und stecken Sie das Geld wieder ein«, bat der junge Mann freundlich, »ich bin schließlich kein Suchdienst.
     Wie heißen Sie übrigens, kleines Fräulein?« wandte er sich an Sonja.
    Das Mädchen stellte sich vor, und er gab ihr die Hand wie einer Erwachsenen.
    »Sehr angenehm.«
    »Wie haben Sie ihn eigentlich gefunden?« fragte Vera, wobei sie versuchte, Matwejs freudiger Schnauze auszuweichen.
    Der Hund hatte ihr die Vorderpfoten auf die Schultern gelegt und leckte ihr das Gesicht, leise winselnd vor Glück.
    »Vorgestern abend bin ich an der Baustelle hinterm Boulevard vorbeigekommen. Da sind manchmal Hundehochzeiten, wissen Sie.
     Auf einmal kam ein roter Setter angerannt, und ihm hinterher zwei riesige wütende Rüden, die wollten offenbar mit ihm ein
     Hühnchen rupfen. Ich entdeckte das Halsband mit dem Schild und begriff sofort, daß der Hund jemandem gehörte. Ich rief ihn
     zu mir, ich pfiff einfach und sagte: Komm mit, armer Kerl. Und die beiden Rüden habe ich weggejagt.«
    »Siehst du, Vera, du hattest recht. Matwej kann unterscheiden, ob jemand ein guter Mensch ist oder nicht«, unterbrach ihn
     Sonja. »Sie sind ein sehr guter Mensch, Fjodor!«
    »Danke schön«, sagte er lächelnd. »Freut mich zu hören. Dann rief ich immer wieder die Nummer an, die auf dem Schild stand,
     aber da meldete sich niemand.«
    Matwej wollte indessen nach Hause, er zerrte ungeduldig an der Leine. Vera konnte ihn kaum halten.
    »Haben Sie auch einen Hund?« fragte sie. Sie hatte eben erst bemerkt, daß an Matwejs Halsband eine solide Lederleine befestigt
     war.
    »Nein. Die Leine hab ich mir von meinen Nachbarn geborgt. Die haben mich auch auf Ihren Zettel aufmerksam gemacht. Darauf
     stand eine andere Telefonnummer, und da war mir klar, daß die auf dem Schild nicht mehr stimmte. Gestern abend wollte ich
     nicht mehr anrufen, es war schon spät. Also habe ich mich gleich heute früh gemeldet. Ja, das ist eigentlich schon die ganze
     Geschichte.«
    »Wir haben vor kurzem eine neue Nummer bekommen, und ich habe es noch nicht geschafft, ein neues Schild machen zu lassen.«
    Fjodor hatte breite Schultern und hielt sich sehr gerade. Trotz seiner Magerkeit und obwohl er keine ausgeprägten Muskeln
     besaß, strahlte er eine geschmeidige, animalische Kraft aus. Die schwarzen Jeans, die Turnschuhe, das sportliche Polohemd
     – alles war neu und offenkundig teuer. Das kurze dunkelblonde Haar sah aus wie frisch geschnitten. Er wirkte überhaupt irgendwie
     nagelneu, strahlend, blank gescheuert. Das glattrasierte Gesicht war unauffällig, regelmäßig, offen und von sympathischer
     Naivität. Ein Dutzendgesicht. Die sanften grauen Augen sahen Vera freundlich und fröhlich an.
    »Ihr Matwej ist bestimmt hungrig wie ein Wolf«, sagte Fjodor, »kommen Sie, ich begleite Sie nach Hause.«
    Nach fünf Minuten waren sie da.
    »Sie sehen Ihrer Mama überhaupt nicht ähnlich, Sonja. Die dunklen

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