Keiner wird weinen
zuckte die Achseln –, »komm rein.«
»Danke.« Fjodor lachte spöttisch. »Ein andermal gern.«
Er zog seinen Fuß weg und warf die Tür zu, direkt vor Stas’ Nase. Ein paar Sekunden lang stand Stas da, als hätte ihn jemand
auf der Schwelle seiner eigenen Wohnung miteiskaltem Wasser begossen. Er begriff selbst nicht, warum er so zitterte. Sogar seine Zähne klapperten.
Stas bemerkte nicht, daß der Schlüssel, der eben noch von außen im Schlüsselloch gesteckt hatte, nun verschwunden war.
Er war generell ziemlich zerstreut und vergaß seinen Schlüssel oft, besonders wenn ihn gerade ernste Probleme beschäftigten.
Das Sicherheitsschloß schnappte zu, und der Schlüssel steckte draußen, bis ein Nachbar klingelte und sagte: »Ihr Schlüssel
steckt draußen« oder seine Frau schimpfte: »Bist du total verrückt! Man wird uns noch ausrauben!«
»Was für ein Schwachsinn«, sagte er absichtlich laut zu sich selbst und schaltete das Licht im Flur ein.
Tief in der Nacht erwachte Stas Selinski in kaltem Schweiß. Ihm war wieder eingefallen, wo, wann und unter welchen Umständen
er Veras frischgebackenen Bräutigam schon mal gesehen hatte.
Einundzwanzigstes Kapitel
Bei Golowkin zu Hause ging niemand ans Telefon. In der Makkaronifabrik hieß es, der Chefeinkäufer sei seit drei Tagen nicht
zur Arbeit gekommen, obwohl er weder Urlaub habe noch auf Dienstreise sei. Der Direktor war deshalb sehr besorgt.
»Ilja Andrejewitsch arbeitet schon lange bei uns, er ist pünktlich und zuverlässig. Wenn er krank geworden wäre, hätte er
auf jeden Fall angerufen und Bescheid gesagt.«
»Vielleicht ist jemand in seiner Familie krank geworden?« mutmaßte die bei dem Gespräch anwesende ältere Sekretärin.
»Ilja hat nur seine Frau. Und er hat mal gesagt, daß sie ein, zwei Sommermonate immer auf der Datsche einer Freundinverbringt. Ich weiß nicht genau, wo …« Der Direktor seufzte.
Die Adresse der Datscha festzustellen war kein Problem. Raïssa Golowkina wurde nach Moskau beordert.
»Schöne Bescherung!« knurrte Hauptmann Malzew, als sie in Golowkins Wohnung dessen Leichnam fanden.
»Sieht aus wie eine Clophelinvergiftung«, stellte der Gerichtsmediziner fest.
Während sie die Wohnung untersuchten, Fingerabdrücke von den Flaschen sowie den zum Teil mit grellrotem Lippenstift beschmierten
Gläsern und Kaffeetassen nahmen, wiederholte Raïssa immer wieder: »Na bitte! Das hat er nun davon! Ich hab immer gewußt, daß
das mal so enden würde!«
Die Spuren eines hastigen Raubes waren offenkundig.
»In letzter Zeit war Ilja außer Rand und Band«, erzählte die Witwe. »Er hat sich zwei teure Anzüge gekauft, Schuhe für fünftausend
Rubel, Krawatten. Früher hat er einen Anzug zehn Jahre getragen, und wenn er sich mal einen neuen kaufte, dann mußte er möglichst
billig sein. Wir mußten jede Kopeke zweimal umdrehen, bei den Preisen heutzutage!«
»Sie meinen also, Ihr Mann hatte in letzter Zeit plötzlich Geld?« erkundigte sich Malzew.
»Wovon soll er das denn sonst gekauft haben?« fragte Raïssa zurück. »Doch nicht von seinem Gehalt! Er ging auf einmal sogar
in Restaurants!«
»Wissen Sie vielleicht, in welche genau?«
»Woher denn?« Raïssa schürzte sarkastisch die Lippen. »Mich hat er nie mitgenommen.«
»Entschuldigen Sie, woher wissen Sie dann davon?«
»Die Nachbarin hat ihn gesehen …«
Später fand sich noch eine weitere Nachbarin, die gesehen hatte, wie Golowkin vor vier Tagen in Begleitung zweier Mädchen
von eindeutiger Art nach Hause gekommen war. Mit Freuden beschrieb die Nachbarin die beiden Blondinen.Eine hatte kurze Haare, die andere lange, beide trugen Röcke bis knapp über den Po und waren stark angemalt. Sonnenklar, was
das für Mädchen waren! Und Golowkin kam nicht bloß so mit ihnen ins Haus – er hatte beiden den Arm um die Hüfte gelegt, und
er trug einen teuren hellen Anzug.
Sie fanden heraus, in welchem Café der bescheidene Golowkin jenen verhängnisvollen Abend verbracht hatte, kurz darauf wurden
zwei blutjunge Mädchen aus dem Gebiet Brjansk, die in Moskau auf »Gastspiel« waren, wegen Mordverdachts verhaftet. Schluchzend
erklärten beide, sie hätten den alten Mann nur ruhigstellen wollen, damit er sie nicht belästigte. Woher sollten sie wissen,
wieviel Clophelin man dafür braucht? Sie seien schließlich keine Apothekerinnen.
Es schien alles klar. Den grauhaarigen Alten hatte der Hafer gestochen. Lehrreiche Geschichten wie diese
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