Keinesfalls Liebe (German Edition)
an den Schultern. „Carlos, schau mich an. Schau mich an!“
Er blickte zwar auf mich hinunter – er überragte mich um fast einen ganzen Kopf –, doch er sah etwas anderes. Jemand anderen. Einen anderen Mann.
Ich gab ihm eine Ohrfeige, die ihn brutal aus seiner Trance riss. Er keuchte auf, taumelte einen Schritt zurück, die Hand an seine Wange gepresst, und starrte mich in einer Mischung aus Unglauben und Wut an.
„Carlos“, sagte ich sanft, und dann schlang ich meine Arme um ihn und hoffte, ihn mit meiner Körperwärme und meiner Nähe trösten zu können. Tatsächlich schien er sich ein wenig zu entspannen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, bis meine Lippen sein Ohr berührten, und flüsterte eindringlich: „Carlos, an Liebe muss man nichts ändern. Auch nicht am Schwulsein. Hörst du? Sexualität ist das Normalste von der Welt. Hörst du, was ich sage, Carlos? Hörst du es? Du musst aufhören, dich zu hassen.“
Und als ich das sagte, spürte ich, dass ich nicht nur ihn belehrte, sondern auch mich.
Er schob mich abrupt von sich weg und ließ sich auf das Sofa fallen. Wieder war sein Blick leer. Diesmal hielt ich es für besser, ihn nicht zu drängen, und blieb einfach so stehen, wartend.
„Das sagt er mir auch andauernd“, murmelte er mit einem schwachen, beinahe gespenstisch entrückten Grinsen. „Und dann küsst er mich und sagt es noch mal. Aber ich weiß es besser. Ich weiß, wir werden alle beide brennen, alle Schwuchteln dieser Welt werden brennen, alle, und du auch, Jo.“
„Brennen?“, fragte ich, leise und verwirrt. „Brennen?“
Carlos Blick kehrte in die Gegenwart zurück, und er schaute mich fest an. Seine Stimme klang, als wäre er so klar im Kopf und so überzeugt von seiner Aussage wie kein anderer Mensch.
„Wir alle, Jo, werden von Gott bestraft. Er wird uns aus unserem Leben reißen wie Blumen aus der Erde einer Wiese, und er wird uns ins Höllenfeuer werfen, und wir werden brennen und brennen, für alle Ewigkeit. Wenn du Männer liebst, wird Gott dich bestrafen“, sagte er mir und meinte jedes Wort.
Eine eiskalte Gänsehaut überzog jede Stelle meines Körpers. Wortlos starrte ich ihm in die wachen, aufmerksamen Augen, einige Minuten lang.
Dann schüttelte ich langsam den Kopf.
„Was redest du da nur für einen gewaltigen Unsinn, Carlos“, flüsterte ich zärtlich und brachte ihn ins Bett.
Am nächsten Morgen erst, als ich Celine bereitwillig und routiniert umarmte, fiel bei mir der Groschen: Carlos spielte nur mit ihr. Und Carlos selbst benahm sich, als wäre letzte Nacht nichts passiert, und es war mir zuwider, einfach so locker vom Hocker am Frühstückstisch seine Sexualität und seine Probleme damit anzusprechen. Das wäre mehr als taktlos gewesen.
Carlos war so wie immer: lebhaft, laut und überschwänglich; einfach er selbst. Ich kannte seit letzter Nacht eine andere Seite von ihm. Es tat mir weh, dass ich im Endeffekt nichts gegen seine Art über Leute wie Daniel, ihn, mich, zu denken machen konnte. Mein Mund öffnete sich immer wieder in dem Versuch, es irgendwie doch anzusprechen, weil ich wusste, dass Sean und vor allem Celine nicht über Carlos’ wahres Problem im Bilde waren, aber jedes Mal unterbrach mich ein heiseres, lautes Lachen und ein heftiger spanischer Akzent, und ich brachte es nicht übers Herz.
Das Treffen mit den anderen Studenten war interessant. Ich lernte Menschen verschiedenster Nationalitäten kennen. Ein Mädchen finanzierte das Studium tatsächlich ganz aus eigener Tasche und rackerte sich fast jeden Tag dafür ab. Nur den Flug hatte ihr ihre Mutter zahlen können, aber ansonsten war ihre Familie mittellos.
Ich spürte einen Stich schlechten Gewissens. Ohne meinen Onkel hätte ich mir nicht einmal einen Flug hierher leisten können.
Celine und Sean waren schon ausgegangen – wie Carlos. Ich stopfte meinen Teil vom Einkaufsgeld in die dafür vorgesehene große Tasse auf der Mikrowelle und zog mir frische Sachen an; eine Jeans und ein graues Sweatshirt. Das musste reichen, schließlich wollte ich keine Mordsaufmerksamkeit auf mich ziehen. Die kam von allein, dank meiner unübersehbaren Haare.
Ich steckte mir vorsichtshalber mein kaum benutztes Handy und den Schlüssel in die Hosentasche, dann ging ich nach draußen vor das Wohnheim.
Und schon stand ein strahlender Daniel vor mir – und hinter ihm drei volle Autos, in dem kaum Platz für mich zu sein schien. Plötzlich hatte ich Zweifel und war erschrocken von meiner
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