Keinmaerchen
Putzelchen sich so wohlfühlen wie in Papas Schoß.” Er machte eine dramaturgisch bedeutungsvolle Pause und trank einen Schluck aus einem zerbeulten Flachmann. “Wurstwasser”, sagte er dann. “Das hättest du nicht erwartet, was?”
Der Junge schüttelte den Kopf. Er nahm das Messer in die Hand und schloss seine Finger langsam um den Griff. “Warst du auch dort?”, fragte er. “Im Weiß? Und weißt du, warum sie in Holz eingeschlossen sind? Oder in Stein und Tönen?”
“Du fragst viel. Was macht dein Kopf?”
“Du hast mich niedergeschlagen.”
“Schlaues Bürschchen.”
“Wo ist Johanna? Das Mädchen. Sie hat rote Haare und ist kurz vor mir in den Krater gestürzt.”
“Da war kein Mädchen.” Der Patient nahm ihm das Messer aus der Hand und begann zu arbeiten.
Fasziniert sah der Junge zu, wie Span für Span zwischen seinen Füßen landete. “Du bist wie ich”, sagte er. “Aber er kommt nicht zu dir und nimmt sie dir weg. Bist du mit dem Zug hierhergekommen?”
Der Patient nahm die Brille ab und sah den Jungen lange an. “Du bist irre, das ist dir doch klar, oder nicht? Deswegen haben sie dich eingesperrt. Deswegen trägst du diese hässlichen Klamotten. Irre, verstehst du?” Er tippte sich mehrmals mit dem Zeigefinger an die Stirn. “Was haben sie diagnostiziert? Schizophrenie? Depressionen? Bist du selbstmordgefährdet? Dann bring dich bitte draußen um, ich will nicht noch mehr Flecken auf dem Teppich.”
Der Junge sah seine weißen Turnschuhe an. “Ich bin nicht irre”, sagte er. “Ich bin nicht verrückt! Hörst du?!”
“Schon gut, ich habs ja gehört. Klar, dass du das sagst. Alle Irren halten sich für normal. Du siehst Dinge, die nicht existieren, stimmts? Hast du Wahnvorstellungen? Hörst du Stimmen in deinem Kopf?”
Der Junge setzte sich auf die Couch und legte die Hände flach auf seine Oberschenkel. In seinen Augen blitzten Tränen.
“Wusste ichs doch. Du bist einer von den Irren.”
“Aber du siehst sie doch auch.” Er zeigte auf die Gläser, dann auf das Holz in der Hand des Patienten. “Du befreist sie aus dem Holz und konservierst sie.”
“Nein. Das siehst du völlig falsch. Ich weiß, dass sie nicht existieren. Ich habe mich in dieses Refugium zurückgezogen, um meine Zwangsneurose zu kultivieren. Des Weiteren existiert dieser Raum und alles darum herum nur in meiner Fantasie. Ich habe mir diesen Ort geschaffen und der Realität Adieu gesagt. Das heißt, ich weiß, dass ich verrückt bin und deshalb bin ichs nicht.”
“Aber ich bin auch hier. Und ich bin kein Produkt deiner Fantasie.”
Der Patient lachte auf. “Gut gekontert! Wahrscheinlich hat sich deine Fantasiewelt nur zufällig mit meiner gekreuzt und hier ist die Schnittmenge. Mathematik. Klar? Man kann alles berechnen und durch sich selbst teilen. Ziemlich coole Sache.”
Der Junge schüttelte den Kopf. “Das ist Blödsinn. Total durchgeknallt. Ich weiß, dass es real ist. Siehst du?” Er griff sich das Messer und schnitt tief in seinen Unterarm. Aus der Wunde quoll Blut, er leckte es ab, aber etwas tropfte trotzdem auf den Teppich. “Das ist echtes Blut”, sagte er.
Der Patient seufzte, holte einen nicht sehr sauberen Lappen aus dem Regal und warf ihn dem Jungen zu. “Erst kotzt er, dann blutet er. Bin gespannt, was noch kommt. Lass den Quatsch, das beweist gar nichts. Natürlich fühlt es sich für dich echt an, aber das ist es nicht. Du könntest dir mit dem Messer die Kehle durchschneiden und es würde sich für dich anfühlen, als wärst du tot.” Er kratzte sich am Kopf und ging ein paar Schritte durchs Zimmer. “Obwohl ich das nicht mit Sicherheit bestätigen kann. Es käme auf einen Versuch an.”
“Nein, schon gut. Ich glaube es auch so. Aber …”
“Kein Aber! Schluss mit Aber und Aberaber. Ich fürchte, du bist noch verrückter als ich … Nicht doch, nicht weinen, ich kann das nicht sehen … Weißt du was? Frau Schmitt wird dir einen ihrer berühmtberüchtigten Pfannkuchen backen, dann wird alles wieder gut!” Er tätschelte dem Jungen unbeholfen den Kopf, dann ging er in einen Nebenraum, der nur durch eine im Türrahmen angenagelte Decke abgetrennt war.
Es klapperte und schepperte, etwas Schweres fiel zu Boden und der Patient fluchte. Kurz darauf kam er zurück ins Zimmer. Bekleidet mit einer braunen Kittelschürze und einer blonden, zu Zöpfen geflochtenen Perücke. In der Hand hielt er einen Pfannenwender, mit dem er sich ausgiebig unter der Perücke
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