Keinmaerchen
Gottes. Ich glaube, hier ist alles möglich.
Ja, sagt sie und sie lacht und nimmt wieder meine Hand. Alles ist möglich. Warum haben wir das nicht schon früher erkannt? Und dann laufen wir zu dem Krater. Oder was auch immer das sein mag.
Der Krater ist kleiner als ich dachte. Je näher wir ihm kommen, desto wärmer wird es. Und es leuchtet aus ihm heraus. Kein Flackern wie von Flammen, da ist ein gleichmäßiges, rötliches Schimmern, das aus dem Krater scheint und sich wie eine Kuppel über ihn spannt. Das Licht summt. Hörst du das?, frage ich.
Ja, sagt sie, wie kleine Leuchtkäfer. Sie streckt die Hand aus und berührt die Lichtkuppel.
Der Sand unter unseren Füßen ist in Bewegung. Er fließt um den Krater herum und in ihn hinein. Meine Füße versinken, ich muss sie immer wieder heraus ziehen.
Ein Strudel, sagt sie. Dann reißt sie den Mund auf und wird hineingesaugt, verschwindet unter der Kuppel. Ich kann sie nicht halten. Als sie durch die Barriere aus Licht stürzt, leuchten ihre Haare wie Feuer. Meine Beine sind schon bis zu den Knien eingesunken. Der Sand fließt und rieselt. Immer schneller und aufgewühlter. Sandkörner peitschen wie Gischt in mein Gesicht. Das Sandmeer ist wütend. Ich kämpfe gegen die Strömung an, kralle meine Hände in fließenden Sand und versinke immer tiefer. Die Kuppel ist ganz nah und jetzt kann ich sehen, dass sie tatsächlich aus Käfern besteht. Glühwürmchen mit roten Hintern. Und dann halte ich die Luft an und falle und lande neben einer Öffnung im Boden, durch die der Sand in die Tiefe rieselt.
Johanna? Die Wände um mich herum sind hart und warm, die Kanten verdammt scharf. Johanna!? Ich starre in das Loch, das wie ein Abfluss aussieht. Genau in der Mitte des Kraters. Nichts zu sehen, was die Explosion verursacht haben könnte. Aber vielleicht ist hier gar nichts eingeschlagen. Vielleicht kam etwas aus der Erde heraus. Aus der Öffnung. Johanna kann nur dort drinnen sein. Ich knie mich neben das Loch und rufe noch einmal ihren Namen. Halte den Atem an, lausche, höre nichts als das Summen der Glühwürmchen. Dann trifft mich etwas Hartes am Hinterkopf und alles ist schwarz.
Dr. Stein
Professor Ruben hat persönliche Aufzeichnungen untersagt, aber ich werde mein Tagebuch auch hier drinnen weiter führen. Diesen kleinen Rest Privatsphäre kann er mir nicht nehmen.
Als ich eintraf, hatten Sokolow und Kimmel bereits den Überwachungsraum eingerichtet und die Computer angeschlossen. Nicht einmal dafür hat der Professor Außenstehende zugelassen. Ich habe die Medikamentenvorräte überprüft und mir dann einen Überblick über die Anlage verschafft. Das Gelände ist abgeschottet wie ein Hochsicherheitstrakt und dabei so unauffällig, dass es keinen Verdacht erregt. Wer würde schon auf den Gedanken kommen, dass sich unter einer Müllverbrennungsanlage ein komplettes Krankenhaus, samt medizinischer Geräte im Wert von über einer Million Dollar, befindet?
Als der Professor persönlich eintraf - die Kollegen verhielten sich, als ob der Erlöser selbst auf die Erde zurückgekehrt wäre und ich muss zugeben, dass ich nicht minder aufgeregt war, dieser Mann ist eine Persönlichkeit - konnte ich endlich die Probanden in Augenschein nehmen.
Es sind zurzeit 69 Kinder, im Alter von acht bis sechzehn Jahren. Weder die Namen, noch ihre Herkunft ist uns bekannt, sie werden in den Akten nur als Nummern geführt. Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, Menschen die Identitäten zu nehmen und sie durchzunummerieren wie Rinder, auch wenn ich die Beweggründe des Professors nachvollziehen kann. Wir sollen keine persönlichen Bindungen aufbauen, die Kinder nur als Teil des großen Ganzen betrachten. Vielleicht werden wir einige von ihnen verlieren. Aber wenn die Testreihe erfolgreich ist, wird sich der Einsatz gelohnt haben. Und sie wird erfolgreich sein, da bin ich mir sicher.
Die Probanden weisen alle die gleichen Verhaltensauffälligkeiten auf. Auf den ersten Blick erscheinen sie autistisch. Ich bin nicht sicher, ob sie meine Anwesenheit überhaupt registriert haben. Sie führen Zwangshandlungen aus und sind dabei außergewöhnlich kreativ, doch beschränken sich ihre künstlerischen Ambitionen auf immer dasselbe Medium. Einige malen, andere arbeiten mit Ton, ein Mädchen erschafft wahre Kunstwerke aus Stein. Das Thema ist ebenfalls immer das gleiche. Geflügelte Wesen, die ihren Ursprung nur in Albträumen haben könnten, wenn wir es nicht besser wüssten.
Genau darum geht
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