Keinmaerchen
Hör auf, Bozo zu sein.”
“Wie könnte ich aufhöre, ich zu sein?”
“Du bist das, was unter der Farbe existiert.”
“Darunter ist nichts und niemand.”
“Ich bin Niemand.”
“Du bist ich.”
“Dann sind wir beide darunter. Wisch die Farbe ab und zieh die viel zu großen Schuhe aus. Leg die Perücke auf den Tisch, das alberne Kostüm daneben.”
“Und was wird sein, wenn dann nichts übrig bleibt? Nichts und niemand.”
“Dann sind wir frei.”
“Das macht mir Angst.”
“Frei zu sein?”
“Etwas anderes darunter zu finden als nichts und niemanden.”
“Sie rufen deinen Namen. Du musst dich entscheiden.”
“Ich bin Bozo. Immer Bozo. Ich will nicht wissen, was unter der Schminke ist.”
“Dann geh auf die Bühne. Mach deine Späße. Bring sie zum Lachen … Aber leg das verdammte Messer weg!”
“Ich könnte ihnen das Lachen aus dem Gesicht schneiden. Die schadenfrohen Blicke. Ich könnte nachsehen, ob sie unter ihren Masken anders sind.”
“Das hast du schon einmal getan, nicht wahr? Und hast du etwas gefunden?”
“Das weißt du doch.”
“Aber was ist mit dir? Weißt du es auch?”
“Ich muss auf die Bühne. Sie rufen meinen Namen. Sie warten auf mich. Hörst du den Applaus?”
“Dann geh und sei Bozo.”
“Bozo, der Clown.”
“Bozo, der Spaßmacher.”
“Ein blutrotes Lachen im Gesicht.”
Conchúbar
Der Aufzug setzte mit einem Rumpeln auf und das Gitter öffnete sich. Das Böse war so präsent, dass es Conchúbar den Atem nahm. Die Finsternis wurde von farbigen Lichtblitzen durchbrochen, die die Umgebung Sekundenbruchteile lang sichtbar werden ließen. Sie entsprangen offenbar einer riesigen Spule, die einige Meter vor dem Fahrstuhl stand. Dahinter waren Holzkisten und Fässer übereinander gestapelt. An den Wänden tanzten Schatten, zuckten und verrenkten sich, als hätten sie Krämpfe. Nut ergriff Conchúbars Hand. Seine Finger waren eiskalt.
Einer der Blitze traf Conchúbar im Gesicht. Er rieb sich über die prickelnde Stelle. “Sie sind warm”, sagte er. “Aber sie schmerzen nicht.”
Nut streckte seine Hand aus und einiger der Blitze trafen auch ihn. Dann folgten weitere, immer mehr und mehr. Sie landeten auf seinem Kopf, tasteten sich über seine Brust, glitten hinab bis zu den Zehen. Dann ließen sie von ihm ab und konzentrierten sich wieder auf Conchúbar. Das Gesicht, die Flügel, der ganze Körper. Gerade so, als machten sie sich ein Bild von ihm.
Das Brummen des Generators war hier unten nur noch schwach zu hören. “Siehst du das?” Nut deutete auf die Schatten.
“Das sind nur Schatten, weiter nichts. Hab keine Angst.” Conchúbar kniff die Augen zusammen und starrte auf die schwarzen Körper. Sie rangen miteinander, drückten sich gegenseitig die Kehlen zu. Er schüttelte den Kopf. “Nur Schatten”, sagte er noch einmal.
“Wer hat Angst vorm Schattenmann”, flüsterte Nut. “Niemand. Jemand. Ich.”
Conchúbar wollte den Jungen beruhigen, aber je länger er auf die Schatten starrte, desto realer wurden sie. Gerade stürzte einer von ihnen zu Boden und der andere beugte sich über ihn und … fraß seinen Körper. Conchúbar schluckte trocken. Der Sieger wuchs mit jedem Bissen, gewann an Kontur und wurde stofflicher. Lebendiger. Nervös drehte er sich um und suchte seinen eigenen Schatten. Was, wenn der Schattenmann … “Warum nennst du ihn Schattenmann?”, fragte er.
“Als ich noch klein war …” Conchúbar lachte. “Also, kleiner als jetzt. Da fürchtete ich mich nachts und meine Eltern …” Er stockte und stieß den Atem aus. “Eltern. Ich hatte Eltern.”
“Natürlich, jeder hat doch Eltern”, sagte Conchúbar.
“Ich hatte sie vollkommen vergessen. Sie waren … Ich weiß nicht. Sie ließen das Licht in meinem Zimmer brennen, wenn ich Angst hatte. Und dann habe ich ihn gesehen. Den Schattenmann. Meist hockte er unter meinem Schreibtisch und starrte mich an. Ich konnte seine Augen nicht sehen, aber ich wusste, dass er mich ansah. Aber noch schlimmer war es, wenn ich ihn nicht sah. Dann lag er unter dem Bett und …” Er rieb sich fest über das Gesicht. “Ich hab ins Bett gepinkelt”, sagte er dann angeekelt.
“Angst ist unser Freund”, sagte Conchúbar. “Sie lehrt uns, wachsam zu sein. Sie beschützt uns, verstehst du?”
“Nein.”
Der Schattenmann bewegte sich auf sie zu. Mit jedem Zucken der Lichtblitze schien er sich ein Stückchen näher an sie heranzuschieben. “Lass uns erst einmal
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