Keks & Drugs & Rock 'n' Roll
meinem Gesicht erschreckend nahe. Wenn ich meine Hand jetzt im Liegen hochstrecken würde, flögen sie dagegen. Meine Nase fühlt sich so unwohl, dass sie sich am liebsten in meine Visage einebnen würde. In meinen Gedanken werden Dracula Filme lebhaftig, dort kommen auch erst die Fledermäuse, dann die großen, weißen Eckzähne. Augenblicklich ballen sich all die Gruselfiguren, über die ich je irgendetwas gehört, gelesen, oder gesehen hatte, angefangen vom Werwolf bis zum Sensenmann, zu einem Wirbel zusammen. Verschwindet alle! Aber sie wollen nicht verschwinden, sie vermehren sich sogar und kommen in Scharen. Nun gut, dann kommt nur! Ich öffne das Panoptikum meines Hirnes und rufe alles Böse, Schreckliche, Gruselige, was je in ihm eingespeichert wurde. Je mehr ich es zulasse, dass sie mich angreifen, umso mehr verblassen sie, bis sie ganz schwach werden. Bedauernswerte Figuren, ihr lebt nur, weil ich es nicht zugebe, dass ich Schiss habe. Ich lasse also meine unterdrückten, verschwiegenen Ängste frei aufbrechen, und hoppla: Ich bin sie los. Ich fühle mich, als sei ich der König der Nacht. Alles, was mit mir in Verbindung steht, hängt nur von mir ab. Also ich überdenke, welche reale Gefahr mir begegnen könnte. Schlange, Skorpion, wildes Tier, vielleicht ein wahnsinniger Mensch? Schon möglich. Aber die größte Gefahr ist die Angst. Die lähmt meine Handlungsfähigkeit, und strahlt sie für jedes Lebewesen vernehmbar in die Nacht. Also, ich mache mich auf alles gefasst, selbst darauf, dass die Brücke einstürzen könnte. Ich überlasse mich meinen Reflexen und meinem Nervensystem und spüre, wie mein Körper sich entspannt.
Die Fledermäuse haben auch das unbekannte Objekt ausgekundschaftet und schenken mir keine Aufmerksamkeit mehr. Sie fliegen den Insekten hinterher und es ist genauso angenehm sie zu beobachten, wie frühmorgens mit Vogelgesang wach zu werden. Liebe Natur, ich bin dein und du bist mein, schließlich sind wir doch eins in all meinen Zellen. Mein Schlaf verschmilzt mit dem Rauschen des Wassers. Säuglinge pflegen nach dem Säugen gleich an der Brust ihrer Mütter so einzuschlafen...
Nachts wurde ich zweimal von Menschenstimmen geweckt. Ein Lichtkegel bewegte sich unter der oberen Brücke hin und her, und jemand hatte etwas ganz laut gerufen. Ich konnte nicht erraten, was die da machten. Es klang so, als ob sie irgendjemanden suchten. Ach, Blödsinn, sie stellen bloß den Scheinwerfer eines Autos an der Betonwand ein... Stunden später wiederholte sich eine ähnliche Szene, dann Ruhe und Schlaf bis zum Morgen.
Die Nacht muss sehr kalt gewesen sein, denn es glänzt noch eine dünne Eishaut über den Pfützen, und die Spur des gestrigen Regens steigt in großen Nebelwolken in die Baumkronen. Ich stehe an der Bücke und begrüße die Sonne mit einem fröhlichen Mundharmonikaspiel. Da ruft mir ein Mann mit Bart und blondem, halslangem Haar von unten aus dem Wasser zu, ob ich gut geschlafen hätte. Er steht mit bis zu den Lenden reichenden Gummistiefeln im Fluss und sucht nach Fischen. Ein Stück weiter von ihm steht eine Frau auch mit Gummistiefeln im Wasser und hält Angelruten bereit. Ich wundere mich, wie sie mit ihrem Wohnmobil Pickup dort herunterfahren konnten, da sagt er, sie hätten da am kieselsteinigen Ufer, am Waldrand, übernachtet und sie hatten mich schon vorhin, als ich aufstand entdeckt.
„Prima, das ist hier für euch “ und ich schicke ihnen den improvisierten Eel River Forellen Blues herunter, während ich über die Brücke laufe, um zwischen den riesigen Bäumen auf der anderen Seite zu verschwinden, wo ich schnell begreife, dass dort nur Touristenautos fahren, und zwar nicht gerade häufig, und die sind auch nicht gerade von „lass uns einen Tramper mitnehmen“ Fieber getrieben. Trotzdem ist es schöner hier zu laufen als zur neuen 101, zum Trampen hinüberzugehen.
Schließlich finde ich ausgetretene, glitschige Fußpfade zwischen den „rostigen“ Bäumen, die nur so wenig Licht durchbrechen lassen, dass es ein Wunder ist, dass hier und da rotgelbe Blumen zwischen dem spärlichen Gebüsch gedeihen können. Ich fühle mich, als wäre ich in eine verzauberte Märchenwelt hineingeplatzt.
Ich bin Hänsel und Gretel.
Es fehlt nur noch das Pfefferkuchenhäuschen. Hexen gibt es sowieso nicht. Oh würd’ ich jetzt gerne den Zaun aus Pfefferkuchen verdrücken. Ich ahne aber, mein Häuschen wäre nur aus trockenem, salzigem Keks. Obwohl mir das jetzt
Weitere Kostenlose Bücher