Kells Legende: Roman (German Edition)
Die Mädchen aßen zurückhaltender, wie es ihrem neuen Selbstbild als junge Damen entsprach, und Kell saß da und pickte trotz seines Hungers wie ein Bussard an einem Stück Aas herum. Er behielt mit einem Auge die Gäste und die Tür im Blick, während er die ganze Zeit voller Unbehagen darüber nachdachte, ob die Albino-Armee möglicherweise nach Süden marschierte. Wenn ja, wie weit waren sie dann auf der Großen Nordstraße gekommen? Wusste Leanoric von der Invasion von Falanor? Hatte er bereits erfahren, dass Jalder eingenommen worden war? Er musste es wissen … aber nur, falls jemand dem Massaker entkommen war und ihn benachrichtigt hatte.
Voller Unbehagen aß Kell die Eier und den Schinken, aber nichtsdestotrotz genoss er den Geschmack des Fleisches. Kell speiste immer langsam, stets mit Genuss. Es hatte oft genug in seinem Leben Zeiten gegeben, wo er sich diesen Luxus nicht leisten konnte. Häufig hatte er gar nichts zu essen gehabt, hatte in schmalen Felsspalten in windgepeitschten Bergpässen kampiert, während sich der Schnee draußen auftürmte, er kein Feuer anzünden konnte und keine Nahrung in seinem Packen hatte … aber schlimmer noch, es hatte Zeiten gegeben, die viel zu elend und brutal waren, um sich an sie zu erinnern, Zeiten …
Er rannte durch dunkle Straßen. Das einzige Licht kam von den Feuern, welche die Gebäude umloderten, während sich die Bürger darin verschanzten und kreischten, die Flammen ihr Fleisch verzehrten, heißes Fett über steinerne Stufen lief und in der Gosse verschwand; er stürmte durch Straßen, blutverschmiertes Fleisch schimmerte im Licht der brennenden Stadt, er hielt die Streitaxt in den Händen, deren Klingen von Blut und Ruhm bedeckt waren, Gewalt in seinem Kopf, in seiner Seele, während er auf der Schneide des Wahnsinns tanzte, als die Tage des Blutes ihn vollkommen erfüllten …
Kell fuhr hoch. Saark starrte ihn an, Nienna und Kat blickten ebenfalls zu ihm. Er runzelte die Stirn. »Was ist denn?«
»Ich fragte gerade«, wiederholte Saark und verdrehte die Augen, »ob du diesen Whisky trinken oder ihn die ganze Nacht anstarren willst.«
Kell erinnerte sich an seine Vision und nahm den Whisky. Die bernsteingelbe Flüssigkeit füllte das halbe Glas; diese winzigen, entlegenen Dörfer schenkten sehr großzügige Portionen aus. Er sah das verzerrte Spiegelbild seines Gesichtes in der Flüssigkeit. Dann leerte er das Glas in einem Zug und schloss die Augen, so als wollte er den Moment genießen. In Wirklichkeit jedoch fürchtete er diesen Augenblick, denn er wusste in seinem Innersten, in seinem Herzen und seiner Seele, dass er ein sehr, sehr böser Mensch werden konnte und werden würde, wenn der Whisky ihn wieder verzehrte, ihn kontrollierte …
Aber so war es nicht mehr, oder? Er grinste schwach. Diese Zeit war tot und vorbei. Begraben wie die verbrannten Leichen, die verstümmelten Frauen, die zerhackten Schweine …
»Bestell noch einen«, sagte er und knallte das Glas auf den Eichentisch.
»Braver Junge!« Saark jubelte. Dann betrachtete er Kells Teller. »Willst du diese Kartoffeln noch essen?«
»Nein. Ich habe plötzlich keinen Hunger mehr.« Er wollte hinzufügen, dass er in dem Augenblick, in dem er zu trinken begann, nicht essen konnte, weil er nur noch immer mehr Whisky wollte. Aber er sagte nichts. Saark beugte sich über den Tisch, spießte mit der Gabel eine Kartoffel auf und stopfte sie sich in den Mund.
»Man sollte gutes Essen nicht verderben lassen«, nuschelte er und grinste mit vollem Mund. »Nur die Dorftrottel in Falanor hungern!«
»Du hast genug gegessen, um damit einen ganzen Regimentszug zu füttern«, erklärte Kell.
Saark verzog schmollend die Lippen. »Ich bin noch im Wachstum! Ich brauche Kraft für heute Abend, stimmt’s?«
»Warum?«, erkundigte sich Kell, als sein zweiter Whisky serviert wurde. »Was passiert denn heute Abend?«
»Ach, du weißt schon«, sagte Saark und stibitzte eine weitere verschmähte Kartoffel von Kells Teller. »Ich fühle mich wie ein Eremit, der einen ganzen Monat lang eingesperrt gewesen ist! Es ist schon Tage her, dass ich mich amüsiert habe. Dir ist doch bestimmt klar, dass ich im Grunde meines Herzens ein Hedonist bin.«
»Was ist ein Hedonist?«, erkundigte sich Kat.
»Das Arschloch eines Stinktiers«, erklärte Kell.
»Sehr komisch!«, zischte Saark und hob sein Glas. »Ich trinke darauf, dass wir lebendig aus Jalder entkommen sind.«
Kell ließ sein Glas sinken. »Darauf muss
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