Kells Legende: Roman (German Edition)
unter Deck in ihren kleinen Messingraum und kuschelte sich unter ihre Decken, wo sie leise weinte. Anukis hatte versucht sie zu trösten, aber Alloria hatte mittlerweile angefangen, die junge Vachine zu ignorieren.
»Erzähl mir von Nonterrazake«, sagte Anukis jetzt zu Vashell.
»Nein.«
»Erzähl es mir!«
»Nein!«, wiederholte er und lachte. »Es gibt ein paar Geheimnisse, die man wahren muss. Dunkle Wahrheiten, die ein Mann in seinem Herzen behüten muss; gewiss, ich könnte dir etwas erzählen, aber es würde dir deinen süßen kleinen Verstand schmelzen, den Rand deines Herzens zu schwarzen Strähnen von Hass kräuseln und deine Seele in einem ewigen Höllenfeuer verbrennen.«
Anukis zuckte mit den Schultern. »Werden die Schnitter mich wirklich verfolgen?«
»Ja.« Vashells Tonfall wurde ernst. »Du hättest das nicht tun sollen; du hast die Schnitter unwiderruflich verärgert. Sie werden ihre Jagd auf dich niemals aufgeben.«
»Dann werde ich sie eben töten!«, fuhr Anukis hoch, gereizt von Vashells defätistischer Haltung.
Er zuckte mit den Schultern. »Und wenn sie fünf schicken? Zehn? Oder gar hundert?«
»Gibt es so viele von ihnen?«
»Du weißt ja nicht einmal, was sie sind«, sagte er sanft.
»Na ja, erst einmal müssen Sie mich kriegen!«, fauchte Anukis mit zusammengekniffenen Augen.
»Das dürfte kein sonderlich großes Problem sein.« Vashell kratzte sich sein entstelltes Gesicht und die juckende, sich erneuernde Haut.
»Soll heißen?«
»Du bist unterwegs nach Nonterrazake. Wegen deines Vaters. Tja, Nonterrazake ist ihr Heimatland. Es sind die Schnitter, die Kradek-ka festhalten.«
Anukis saß da, wie betäubt, unfähig zu reden, unfähig zu denken. Sie hatte angenommen, dass sie vor den Schnittern flüchteten. Jetzt jedoch schien es, als müsste sie in die Höhle des Löwen reisen, wenn sie ihren Vater retten wollte.
Sie blickte zu den Sternen empor. Sie funkelten und waren unendlich weit entfernt. Anukis saß lange da und spürte, wie ihre Seele zu schmelzen begann, wie alle Hoffnung schwand, und schließlich begriff sie, dass sie ihre Stärke verloren hatte.
Verzweifelt ging sie unter Deck, für einen rastlosen, bekümmerten Schlaf.
Anukis schlief sehr lange, so lange, bis Alloria sie weckte.
»Er ist verschwunden.«
»Was? Wer?«
»Vashell. Der Mann, dem Ihr das Gesicht genommen habt, mit Euren Krallen.«
Anukis war noch vollkommen müde und fühlte sich, als hätte man sie mit Drogen betäubt. Sie stolperte an Deck und starrte hoffnungslos auf die Stelle, wo Vashell gefesselt gewesen war. Seine Stricke lagen zerfetzt an Deck. Von ihm selbst war nichts zu sehen.
Anukis rannte zur Reling der Barke. »Vashell!«, schrie sie. »Vashell!« Ihre Worte hallten von den Felswänden zurück, schienen in den Frühnebel gehüllt zu sein, als sie wieder an ihre Ohren drangen. Eine andere Antwort gab es nicht.
»Was machen wir jetzt?«, erkundigte sich Alloria leise.
»Wir fahren ohne ihn weiter.«
Sie fuhren den ganzen Morgen lang über den immer wieder mal vereisten Fluss, und die Uhrwerkmaschine der Barke summte gleichmäßig. Sie navigierten tief in das Labyrinth des Schwarzspitz-Massivs hinein, wurden förmlich hineingesogen, und Anukis hatte bis jetzt keinerlei Anzeichen von Leben wahrgenommen. Weder Tiere noch Vögel, gar nichts. Es war einsam, unfruchtbar, öde, so trostlos wie eine fremde Welt. Selbst die Vegetation war dürftig, weiß, hellgrün, grau und schwarz. Es gab nur wenige Bäume, wenn überhaupt, und die duftenden, üppigen Immergrüne waren längst verschwunden. Nur Grasbüschel gab es noch, die vereinzelt zwischen dem Schnee und Eis herauslugten. Und dennoch, die Berge sprachen zu Anukis. Steinschläge dröhnten, das Eis knackte und krachte, Felswände brachen ab, Felsbrocken stürzten zu Tal, donnerten drohend den Fels hinab und wurden vom Silva verschluckt. Hoch oben, für sie unsichtbar, hörten sie das entsetzliche Donnern einer Lawine.
Und mit jedem dieser Laute schrie das Schwarzspitz-Massiv seine Überlegenheit heraus.
Nach einer kurzen Pause, in der sie trockenes Fleisch aus der Vorratskammer der Messingbarke verzehrten, setzten sie ihre Reise fort. Bis Alloria, die im Bug der Barke kauerte und den Wind in ihrem Haar genoss, laut keuchte.
»Was gibt es?«
»Dort! Dieser schmale Fluss, auf der linken Seite. Folgt ihm!«
»Was habt Ihr gesehen?«
»Folgt ihm einfach! Vielleicht bin ich auch nur verrückt geworden!«
Anukis steuerte die Barke
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