Kells Legende: Roman (German Edition)
und verstärkt wurde.
Es verstrichen weitere Stunden, und Anukis wurde immer aufgeregter, als sie jetzt die Quelle dieses ständig anwachsenden Lärms erkannte. Das war der Vrekken, ein natürlicher Strudel, von dem man in Abenteurerkreisen ehrfürchtig berichtete, an Lagerfeuern, mitten in der Nacht, oder von dem Barden leise sangen, in Schänken, deren Boden mit Spreu ausgelegt war; oder von dem die Schwarzlippler sprachen, die angeblich eine höchst unheilige Allianz mit diesem riesigen Strudel eingegangen waren. Nirgendwo jedoch hatte Anukis jemals Geschichten gehört, dass dieser Vrekken unter dem Schwarzspitz-Massiv läge, wie in einem Grabmal.
Jetzt erschauerte sie und wurde in die Dunkelheit gezogen.
Sie begriff, dass eine Kraft ihr Schicksal bestimmte, die sie nicht beeinflussen konnte.
Und sie akzeptierte dieses Schicksal mit einem tiefen, von Herzen kommenden Seufzer.
Angeblich war ihr Vater Kradek-ka hier unten, im mythischen Land von Nonterrazake, zu dem der Weg durch den Vrekken führte, durch das Salz und das Wasser der seltsamen Flüsse, die sich vereinten und zwischen diesen ungeheuren Felsschluchten hinabflossen. Entweder das, oder aber es wartete einfach nur der Tod auf sie.
Der Lärm schwoll mit jeder Minute weiter an, und Anukis bemerkte, dass die Messingbarke allmählich schneller durch das Wasser glitt. Schließlich wurde aus dem Lärm ein Tosen, ein Tosen voller Wut und bestialischem Hass, ein Tosen, das fürchterlich war, ein Brausen, das reinen, glühenden Terror auslöste. Anukis umklammerte mit weißen Knöcheln die Reling der Barke, als das Schiff zu schwanken begann. Einen flüchtigen Augenblick lang wünschte sie sich, sie wäre bei Alloria geblieben, über die hohen Bergpässe mit ihr gegangen und hätte sich den Bedrohungen durch die sie jagenden Schnitter gestellt. Doch dann biss sie die Zähne zusammen, ihre Wangenmuskeln traten hervor, ihre Augen wurden schmal, und sie dachte nur ein einziges Wort.
Nein.
Sie würde den Tod nicht fürchten. Sie würde ihren Vater suchen. Oder sie würde dabei sterben.
Das Tosen wuchs und wuchs, bis es so laut war, dass Anukis sich nicht einmal selbst gehört hätte, wenn sie aus voller Kehle geschrien hätte. Der Fluss war mittlerweile gefährlich reißend, schleuderte die Barke von links nach rechts und warf sie rücksichtslos gegen die Felswände.
Und dann …
Eine Welt öffnete sich vor Anukis, die gleichzeitig unglaublich schön und auf furchteinflößende Weise gefährlich war. Sie war so erstaunlich, wie ein Haifisch aus der Nähe erstaunlich ist, so blendend wie das Feuer von schwarzer Magie, und sie bannte Anukis’ Blick, der gleichzeitig klar wurde, dass nichts, gar nichts mit diesem Augenblick zu vergleichen war, vorausgesetzt, sie überlebte diese Prüfung …
Der Vrekken war fast eine halbe Meile breit, und er füllte eine Höhle von solch unglaublichen Ausmaßen, dass Anukis dies niemals für möglich gehalten hätte, jedenfalls nicht im Inneren eines Berges. Dieses Schauspiel wurde von handgelenkdicken Flözen von Mineralien erhellt, die sich in den Felswänden befanden, wirbelnden, sich miteinander verbindenden Bändern aus Orange und Grün, die Anukis an ein Fest oder einen Jahrmarkt denken ließen; nur gab es hier sehr wenig zu feiern. Es sei denn freilich, man wollte den Tod zelebrieren.
Der Vrekken tobte, brüllte, ein gigantischer runder Schlund, ein schäumender Moloch aus kalt-kochendem Wasser, das sich in einer gigantischen Spirale hinabbewegte, in riesigen, rauschenden Kreisen, immer tiefer, in einen gewaltigen, abgründigen Trichter. Anukis’ Augen waren wie gebannt. Ihr Mund war so trocken, dass sie nicht einmal ihre Zunge herausstrecken konnte, um sich die Lippen zu befeuchten. Die Ingenieursbarke wurde in den Vrekken gezogen, dann herumgeschleudert wie ein winziges Spielzeug, wurde von der ungeheuren Strömung mitgerissen, während ihr Bug sich hoch in die Luft hob und sie ein breites Kielwasser hinterließ. Anukis raste hinab, immer weiter hinab, immer im Kreis und weiter hinab, während sie erkannte, dass dieser mächtige Strudel aus endlosen, übereinandergleitenden Schichten von Wassern bestand. Sie glitt hinab, durchquerte eine Schicht dieses ozeanischen Mikrokosmos nach der anderen, dieser wirbelnden, dunklen Energie, dieser rohen Macht, dieses kreischenden Tosens und dieses mächtigen, urtümlichen Mahlstroms, und sie dachte …
Es gibt kein fabelhaftes Nonterrazake.
Ich werde sterben. Hier.
Ich
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