Kells Legende: Roman (German Edition)
und war vollkommen hilflos.«
Nienna sah ihre Freundin einen Moment mit einem merkwürdigen Ausdruck an, dann richtete sie ihren Blick auf Kell, der sich vollkommen auf die lange, majestätische Halle konzentrierte. Schließlich sah er zu den Mädchen zurück, die blutige Axt in seinen gewaltigen Pranken. Mit seinem dichten, grauen Bart und dem riesigen Bärenfell wirkte er für einen ganz kurzen Augenblick, einem Ausschnitt einer geahnten Realität, vollkommen natürlich in diesem Aufzug. Ein Krieger. Nicht mehr. Ein bestialischer, primitiver Geist.
»Folgt mir«, sagte er und brach den Bann. »Und gebt keinen Mucks von euch. Sonst sind wir alle tot.«
Nienna nickte und folgte ihm, Kat im Schlepptau, in die Halle hinaus.
Saark sah fasziniert zu, wie der Schnitter sich bückte, nickte und mit dem rhythmischen, merkwürdig federnden Gang vorwärtsschritt, während Eisrauch aus seiner Robe quoll. Schwarze Augen, die wie glühende Kohlen wirkten, zogen Saark in eine Welt der süßen Freude und erhabenen Gnade …
Komm zu mir, mein Engel.
Komm zu mir, du Heiliger.
Lass mich dein Blut genießen.
Lass mich dich auf deine letzte Reise begleiten.
Lass mich dein Leben schmecken …
Die langen, knochigen Finger griffen nach Saark; er stand vollkommen angespannt da, und sein ganzer Körper vibrierte wie die Saite einer Mandoline. Saarks Augen zuckten; er sah den Mann mit der aufgesetzten Kapuze, der hinter den Schnitter schlich, noch während dessen lange Finger nach Saarks Brust griffen, er sah, wie sein Hemd sich abzuschälen schien und fünf weißglühende Nadeln seine Haut versengten. Er öffnete den Mund, um zu schreien, als er spürte, wie sein Fleisch schmolz, aber ihm kam kein Laut über die Lippen, und er hatte keinerlei Kontrolle über seinen Körper, als der Schmerz ihn wie ein Knüppel auf den Schädel traf, ihn betäubte, seine Beine weich wurden, während ein eisiger Wind um seine Seele peitschte …
Der Mann mit der Kapuze stieß einen Schlachtruf aus und griff an, schwang ein riesiges Hackmesser über dem Kopf; sein bärtiges Gesicht, gerötet und von dem Eisrauch übel mitgenommen, war zu einer Maske wilder Wut verzerrt.
Der Schnitter drehte sich herum, ebenso geschwind wie gelassen, und hob, als das Hackmesser herabsauste, ruckartig den Arm. Das Hackmesser prallte mit einem Klacken von dem Knochen ab und flog davon, glitt dem Mann aus den gekrümmten Fingern. Der Schnitter streckte die Hand aus und durchbohrte die Brust des Mannes über dem Herzen. Der schrie auf.
Saark fiel auf die Knie, hustend, würgend, aber frei von dem Bann, und presste seine Hände auf seine brennende Brust, deren Haut zu schmelzen schien. Er blickte hinab, auf die fünf tiefen Gruben in seiner Haut, dunkelrote Male, die von konzentrischen Kreisen umringt waren. Saark hustete weiter, als hätte man ihn mit einem Schmiedehammer gegen die Brust geschlagen, und sah hilflos zu, wie der Schnitter den mutigen Angreifer hoch in die Luft hob, der schreiend um sich trat, während sein Herz von fünf Knochenspeeren durchbohrt wurde. Der Mann kreischte und schlug weiterhin um sich, und Saark riss die Augen auf, als er mit ansehen musste, wie der Mann immer mehr schrumpfte, wie seine Arme und Beine knackten, sich verformten, sich in unmöglichen Winkeln verbogen, während seine Gesichtshaut ebenfalls schrumpfte und sich immer straffer über seinen Schädel spannte. Schließlich war er nur noch eine trockene, nutz- und augenlose Hülle.
Der Leichnam fiel klappernd zu Boden, wie Knochen in einem Papiersack.
Der Schnitter drehte sich erneut zu Saark um und starrte ihn mit seinem flachen, ovalen Gesicht lüstern an. Als er die schmalen Lippen öffnete, gähnte dahinter ein schwarzer Schlund, der mit unendlichen Reihen von winzigen Zähnen bestückt war.
Saark grunzte, rollte sich auf Hände und Knie, sprang auf und rannte los, schneller, als ein Mann eigentlich laufen konnte. Er raste mit brennender Brust davon, wobei sein Herz einen wilden Rhythmus in seine Ohren hämmerte, sein Mund vollkommen ausgetrocknet war und sich seine Blase gleichzeitig entleerte. Er flüchtete durch lange Gassen, ohne dass er etwas von seinem Verfolger gehört hätte. Als er sich umdrehte, wäre er vor Angst fast erstickt. Der Schnitter folgte ihm, nah und so lautlos, dass Saark beinahe vor Schreck hingefallen wäre. Er rannte nach rechts, durch eine schmale Gasse, und behielt dabei ständig die Richtung zum Fluss bei. Er rutschte über vereiste
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