Kells Legende: Roman (German Edition)
Weiterleben nehme, wenn ich seine Gedanken ablenke, indem ich ihm seine Königin raube, habe ich ein sehr starkes Unterpfand, ich verfüge, sagen wir es einmal so, über eine Strategie, die unser Taktiker sicherlich zu schätzen weiß. Ich kann es mir nicht erlauben, allzu viel Zeit mit dieser …«, er lächelte fast sarkastisch, »Invasion zu verschwenden. Das versteht Ihr doch, Trelltongue?«
»Ja«, stieß der Höfling keuchend hervor, während ihm das Blut über den Hals lief.
Graal ließ Dagon los, der auf dem Teppich landete, drehte sich um und schenkte sich beiläufig einen weiteren Weinbrand ein. Dann hob er den Kopf, als etwas durch die Tür glitt. Dagon stockte der Atem, als er sah, wie sich der Schnitter näherte. Er hatte diese Kreaturen bei der Arbeit gesehen, hatte mit angesehen, wie sie die Leichen von Frauen und Kindern ausgesaugt hatten. Sie erfüllten ihn mit einem Entsetzen, das uralt zu sein schien, aus einem primitiven Kern seines Innersten zu stammen schien; es war ein so ungeheures Entsetzen, dass er es nicht einmal in Worte hätte fassen können.
»Hestalt. Gibt es ein Problem?«
Der Schnitter nickte, drehte den Kopf zu Dagon herum, und der Blick seiner schwarzen Augen schien sich durch den Ratgeber des Königs zu brennen. Graal winkte beiläufig mit seiner blutenden Hand. »Achte nicht auf ihn, er hat keinerlei Bedeutung.« Graal machte sich daran, die Scherben aus seiner Hand zu zupfen. Einige davon waren fast fünf Zentimeter lang. Er zuckte nicht ein einziges Mal zusammen. »Was gibt es?«
»Der Mann. Dieser Held. Kell.«
»Er lebt?«
»Mehr als das. Er ist ein … Dorn in meinem Fleisch. Er ist entkommen.«
»Schick ihm eine Abteilung meiner Männer hinterher. Sie werden ja wohl mit einem einzelnen alten Mann fertig werden.«
»Nein, Graal. Er ist weit gefährlicher, als du begreifen kannst … und diese Gefahr geht vor allem von seiner Streitaxt aus. Ich erkenne ein Blutband, eine blutgebundene Waffe, wenn ich sie sehe. Graal, wir müssen uns sofort darum kümmern. Hast du das verstanden?«
Graal rieb sich das Kinn und starrte ins Leere. »Er war damals dabei? Während der Tage des Blutes? Wenn er im Besitz einer blutgebundenen Waffe ist, muss er jene Tage erlebt haben; so oder so.« Graals Augen funkelten. Die Glassplitter in seiner Hand waren offensichtlich vergessen. »Eine solche Waffe verleiht einem eine ungeheure Macht, richtig? Macht, die wir benutzen können, stimmt’s?«
Der Schnitter nickte. »Schicke einen Canker hinter ihm her.«
Graal runzelte die Stirn. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben, mein Freund?«
»Er muss aufgehalten werden. Sein Leben muss ausgelöscht werden. Sofort!«
Graal blickte kurz auf. Es kam selten vor, dass er einen Schnitter so aufgebracht erlebte. Er trat ans Fenster, während er überlegte, ob es sich hier um eine heimliche Verbindung handelte; ob es Informationen gab, die ihm vorenthalten wurden. Graal gab einem Albino-Soldaten ein Zeichen, der daraufhin sofort verschwand. Dagon Trelltongue nutzte den Moment, um sich aufzurappeln. Er zog ein Taschentuch aus einer Tasche und tupfte damit seine blutende Kehle ab, spürte das geschwollene Fleisch, die Löcher in der Haut, und wusste, dass er in den nächsten Tagen Schwierigkeiten haben würde, auch nur ein Wort herauszubringen.
Dann hörte er ein Geräusch: nur schwach, aber dafür wild und brutal, ein Knurren wie von einer Raubkatze. Nur war dieses Knurren pervertiert, von einem metallischen Geräusch durchsetzt. Dagon erschauerte unwillkürlich und stellte fest, dass General Graal ihn betrachtete. Der Mann lächelte und deutete beiläufig auf die Tür. »Ein Canker«, sagte er zur Erklärung, als sechs Soldaten einen Käfig durch die hohen, mit Schnitzereien verzierten Doppeltüren schoben.
Dagon fühlte, wie ihm der Urin warm die Schenkel hinunterlief, als sein Blick auf den Käfig fiel. Er war nicht in der Lage, seine Augen von dem Anblick loszureißen, der sich ihm bot.
Die Kreatur besaß etwa die Größe eines Löwen, aber damit endete auch schon jegliche Ähnlichkeit. Früher einmal war sie ein menschliches Wesen gewesen. Jetzt hockte sie auf allen vieren, und unter der blassen weißen, mit grauem und weißem Fell bedeckten Haut traten mächtige Muskeln hervor. Die Kreatur hatte eine fliehende Stirn, ihr Mund war fünfmal so groß wie der eines Menschen und ihr Schädel schien aufgerissen zu sein, horizontal aufgeplatzt wie eine Melone. Riesige, gebogene Reißzähne
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