Kells Legende: Roman (German Edition)
ragten bis weit unter das Kinn, wie rasiermesserscharfe Dornen. Der Körper der Kreatur war von offenen Wunden übersät, von blutroten Wunden, die von gelbem Fett gesäumt waren, wie das offene, erstarrte Fleisch von Leichen. Im Inneren sah Dagon winzige Räder, die sich drehten, ein Gestänge, das arbeitete, Zahnräder, die sich bewegten wie …
Wie ein Uhrwerk, dachte er.
Dagon blinzelte und versuchte zu schlucken. Vergeblich.
Die Kreatur knurrte, kreischte und warf sich gegen die Gitterstäbe des Käfigs. Die riesigen, stählernen Stangen quietschten, und eine davon klapperte vernehmlich. Die Kreatur ließ sich auf die Hinterbacken sinken, mit ihrem merkwürdigen, offenen Schädel, ihren seltsamen, ungleich hoch sitzenden Augen, und starrte Dagon einen Moment an. Ein Speer aus Eis schien ihm ins Herz zu dringen. Er sah in dem Schädel noch mehr Mechanik arbeiten und bildete sich ein, dass er, wenn er genau hinhörte, das leise Ticken einer Uhr hören könnte.
»Was ist das?«, flüsterte er.
»Ein Canker«, wiederholte Graal, trat an den Käfig und streckte seine Hand hinein.
Nicht!, wollte Dagon schreien, tut das nicht, es wird Euch Eure blöde Hand abreißen! Aber er schrie nicht, sondern starrte den General in einem benommenen, schrecklichen Schweigen an. »Wenn Vachine jung sind, im zartesten Säuglingsalter, kommen sie in den Palast der Ingenieure, wo gewisse notwendige Modifikationen an ihnen vorgenommen werden. Aber manchmal ist der Körper der Vachine sehr temperamentvoll, und das Wesen erleidet … nennen wir es einen Rückschlag. Muskeln, Knochen und Uhrwerk vertragen sich nicht miteinander, lassen sich nicht integrieren, und während das Vachine wächst und älter wird, verliert es seine Menschlichkeit. Es verliert alle Emotionen, jegliches Mitgefühl und wird etwas Geringeres als ein Vachine. Es pervertiert, sein Körper wird korrumpiert, und sein Wachstum vollzieht sich in einem ständigen Kampf zwischen Körper und Uhrwerk. Die beiden Komponenten ringen miteinander um die Vorherrschaft. Und dieser innere Krieg erfüllt den heranwachsenden Canker mit schrecklichen Schmerzen, mit Hass und bedauerlicherweise auch mit Wahnsinn. Schließlich wird eins von beiden, Körper oder Uhrwerk, diesen Kampf gewinnen, und der Canker wird sterben. Bis dieser Augenblick kommt, können wir sie jedoch dafür benutzen, um unreine Vachine zu jagen. Die Häretiker, die Blasphemiker und die Schwarzlippler.«
Bei diesen Worten drehte sich Graal herum. Er hatte leise gesprochen, als er die Überlieferung des Ingenieurkonzils wiederholt hatte, das Eichentestament, und er blinzelte, als würde er aus einem Traum erwachen. »Das hier ist Zalherion. Er war einmal mein Bruder. Der Prozess der Vachine ist gut gelaufen, für mich, aber, wie ich fürchte, nicht für ihn.«
Der Canker näherte sich den Gitterstäben und leckte Graals Hand, wie ein Hund die Hand seines Herrn lecken würde. Dann knurrte er, drehte den missgestalteten Schädel und starrte erneut Dagon an. Graal lachte; es war ein freundliches Lachen, bei dem seine blauen Augen funkelten. »Nein, nicht er, Zal. Wir haben einen anderen für dich.« Der Canker grollte; es klang wie das verzerrte Brüllen eines Löwen. Die Riegel quietschten, als Graal die Käfigtür öffnete.
Der Canker sprang heraus, und seine Messingklauen zerfetzten den dicken Teppich. Er bewegte sich mit furchteinflößender Kraft und raubtierhafter Anmut, trotz seiner pervertierten Gestalt und seiner offenen Wunden. Er war größer als die Menschen, selbst größer als der Schnitter, und der Blick, mit dem er auf Graal hinabsah, schien so etwas wie Liebe zu beinhalten.
Graal drehte den Kopf, und der Schnitter trat vor. Er schloss die Augen, und seine fünf knochigen Finger richteten sich auf den Canker. Die Kreatur knurrte, wich einen Schritt zurück und kauerte sich auf den Boden. Einen Augenblick später erhob sie sich und raste aus dem Raum. Ihre Krallen hinterließen Furchen im Stein.
»Was habt Ihr getan?«, flüsterte Dagon. Ihm war klar, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn er diese Begegnung überlebte und auch jene, die dieser bald folgen sollte. Ein Triumph des Lebens über den Wahnsinn, des Glücks über jegliche Wahrscheinlichkeit.
»Der Schnitter hat ein Bild von Kell in den schlichten Verstand des Cankers eingebrannt. Jetzt wird Zal nicht ruhen, bis Kell tot ist.«
Dagon senkte den Kopf. Tränen liefen ihm über die Wangen.
Das kleine Boot glitt, getrieben von der
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