Kells Legende: Roman (German Edition)
Blick ins Freie.
Das Abwasser rauschte durch eine Reihe von zementierten Kanälen unter einer hölzernen Plattform hindurch in den Selenau. An dieser Stelle beschrieb der Fluss eine scharfe Biegung, wurde von zwei Felswänden eingeengt und toste schäumend über etliche Steinbrocken hinweg, bevor er in Richtung Stadt verschwand. Die hölzerne Plattform war auf dem Felsen befestigt und ragte auf hölzernen Pfeilern über den Fluss hinaus. Das Holz war dunkel und glatt von Öl, das es vor der Feuchtigkeit schützte. An einem Ende standen etliche Fässer, und in einem kleinen, ruhigen Becken, das mit einer Zementwand vom Fluss abgetrennt war, dümpelten fünf kleine Boote.
Saark trat neben ihn. »Wir nehmen ein Boot?«
»Scheint mir eine gute Idee zu sein, mein Junge.«
»Dann los.«
»Warte.« Kell legte Saark eine Hand auf die Brust. »Diese … diese Kreatur, man nennt sie Schnitter; sie war doch mächtig scharf darauf, uns das Blut auszusaugen, richtig?«
Saark nickte.
»Also ist es sehr gut möglich, dass sie da draußen auf uns wartet. Wir müssen schnell sein, Saark. Und wir dürfen keine Fehler machen. Bereite dich darauf vor, dieses hübsche kleine Messerchen zu benutzen, das du da mit dir herumträgst.«
Wieder nickte Saark, und die Gruppe trat hinaus, in das graue Licht. Über den Himmel zogen Fetzen von Eisrauch, der jetzt zwar dünner geworden war, aber immer noch verhinderte, dass man weiter als hundert Meter sehen konnte. Kell sah sich nach links und rechts um, während sie die vereiste Zementrampe hinunterkletterten, vorbei an der Stelle, wo das Abwasser aus der Kanalisation der Gerberei herausströmte. Dann sprang er mit einem dumpfen Poltern auf die hölzerne Plattform, und da stand er, ein riesiger Bär, die Axt vor seiner Brust, und sah sich um.
Nienna und Kat rutschten auf dem Hosenboden die Rampe hinunter, gefolgt von Saark, der aufrecht und in tadelloser Haltung hinabglitt, obwohl seine elegante Kleidung von Farbe und Kot ruiniert war. Er hielt sein Schwert in der Hand und sah sich mit zusammengekniffenen Augen suchend um …
Kell ging zu einem Boot und durchtrennte das Haltetau mit einem Schlag seiner Axt. Dann nahm er das Seil in seine Faust und scheuchte die Mädchen und Saark zu dem Boot. Letzterer hatte sich umgedreht, zum Ende der Holzplattform, die im Nebel lag … aus dem im selben Moment der Schnitter glitt, mit glühenden Augen und ausgestreckter Hand. Fünf knochige Finger deuteten auf die Gruppe.
»Rein mit euch!«, knurrte Kell.
Saark nahm die Mädchen und sprang mit ihnen ins Boot. Das dünne Eis in dem ruhigen Kanal um den Kahn herum zerbrach. Die Strömung packte das Gefährt, zog daran, und Saark beugte sich vor, hielt sich an der Plattform fest. »Komm schon rein, Kell!«, fauchte er. Aber Kell hatte sich umgedreht und rollte seine mächtigen Schultern, als der Schnitter sich in Bewegung setzte und hüpfend auf ihn zurannte. Ein hohes, schrilles Pfeifen drang aus seinen flachen, ovalen Nasenlö chern. Kell setzte sich in Bewegung, griff an, und schlug mit der Axt zu, aber der Schnitter reagierte sehr schnell. Er wich der Klinge aus und stieß seine knochigen Finger vor. Kell hatte jedoch bereits zu einem weiteren Schlag ausgeholt und schlug den Arm der Kreatur zur Seite. Er rutschte auf dem vereisten Holz aus, versuchte sein Gleichgewicht wiederzufinden. Der Schnitter senkte den Kopf und starrte ihn an.
»Du wirst einen langen, schmerzhaften Tod erleiden, Menschlein.«
»Dann komm und zeig’s mir, Jungchen!«, schnarrte Kell, der den Kopf einzog und gleichzeitig die Schultern anhob, als der Schnitter angriff. Er schlug mit der Axt zu, doch die Kreatur wehrte den Hieb ab. Kell duckte sich, wirbelte einmal im Kreis herum, wobei Ilanna pfeifend durch die kalte Luft sauste, um die Beine des Schnitters zu treffen … Die Kreatur trat zurück, und die Axt fuhr weiter im Kreis, über Kells Kopf, der einen Schritt auf den Schnitter zu machte und die Klinge gegen die Schultern der Kreatur schmetterte. Es ertönte ein Geräusch wie von splitterndem Holz. Die Klinge wurde abgelenkt und riss Kell aus dem Gleichgewicht. Im selben Moment traf eine Faust Kell in die Rippen, so dass er zu Boden ging. Der Schnitter stieß seine Finger vor, gegen Kells Herz, aber der rollte sich zur Seite und schlug mit seiner Axt zu, traf die Finger der Kreatur und hämmerte sie mit der Klinge der Axt in das Holz der Plattform.
Kell rappelte sich auf, die Hand auf seine schmerzenden Rippen
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