Kells Legende: Roman (German Edition)
Gegensatz zu früher herrschte jetzt in dem Saal eine ziemlich düstere und kühle Atmosphäre.
Graal trat vor einen großen, lackierten Tisch und wirbelte plötzlich herum, unerwartet schnell. Sein langes weißes Haar wehte einen Moment um sein Gesicht, während sich der Blick seiner leuchtenden, hellblauen Augen auf Dagon richtete, der schluckte, als er das Lächeln auf Graals Gesicht sah. Er wusste, dass der General seine Gedanken gelesen hatte, ihm seinen breiten Rücken als Test dargeboten hatte, als Ziel für einen ersten Versuch. Dagon wusste ebenfalls, dass dieser Mann ein sehr mächtiger Krieger war. Hätte er es gewagt, ihn anzugreifen, den Versuch zu machen, sein Volk zu retten … wäre er jetzt vermutlich tot.
»Einen Branntwein?«
»Nein, ich sollte nichts trinken«, antwortete Dagon. Seine Stimme klang sonor. Er war ein geborener Redner, aber hier, in dieser Gesellschaft, kam er sich vor wie ein Kind. Alle seine so mühsam einstudierten Reden verwelkten in der Luft wie alter Kohl.
»Ich gehe davon aus, dass der Eisrauch nicht jedem gefällt. Seine Kälte dringt einem bis auf die Knochen. Komm schon, Dagon, Ihr habt eine lange Reise hinter Euch gebracht für diesen Besuch, eine lange Reise, um …«, er lachte leise, »Euer Leben zu retten. Ein kleiner Branntwein kann nicht schaden. Er wird aus Pfirsichen destilliert, die, soweit ich weiß, aus König Leanorics eigenen Obstgärten stammen.«
Dagon nahm ein Glas, und seine Augen spiegelten sich in dem Wappen von Leanoric, das kunstfertig in die mit Facetten versehene, kristallene Oberfläche geschliffen worden war. Er trank und beobachtete Graal, der seinerseits die zitternden Finger seines Gastes betrachtete, seine nervöse Zunge. Er leerte das Glas und spürte, wie die Wärme ihn durchströmte, wie der Alkohol sein Hirn kitzelte und ihm ein bisschen Mut machte.
»Ihr werdet mir also alles erzählen?«, meinte Graal und nippte an seinem Getränk. Dagons Blick fiel auf die Finger des Mannes, die lang und schlank und deren Fingernägel sogar weiß waren. Dann sah er hoch und begegnete dem blauen, starren Blick seines Gegenübers. Merkwürdig, dass seine Augen blau sind, dachte Dagon. Er beobachtete sie. Graal blinzelte nicht einmal.
»Ja«, krächzte Dagon schließlich, dem die Knie weich wurden und der das Gefühl hatte, als würde ihm gleich die Blase platzen. Er war zutiefst verängstigt.
»Die genaue Zahl der Infanterie, der Kavallerie, der Bogenschützen und Pikeure? Die Orte, an denen die verschiedenen Divisionen stationiert sind? Die Namen der Divisionsgeneräle? Der Brigadegeneräle? Die Zahl der Pferde, der Nachschubketten, der militärischen Routen durch Falanor, schlicht alles?«
»Ja.«
»Und natürlich nicht zu vergessen«, Graal trat zu Dagon und bückte sich ein wenig, um dem Höfling in die Augen zu blicken, »Leanoric. Man sagt, er sei ein großer Kriegskönig. Auf dem Schlachtfeld unbesiegbar. Er hat immer wieder gezeigt, dass er einen brillanten Verstand besitzt, dass er ein unvergleichlicher Taktiker ist. Er ist stark, gut aussehend, heischt Respekt von seinen Soldaten, Ehrerbietung. Ist das alles zutreffend?«
»Das ist es … Mylord.«
»Ich bin General, kein Lord!«, fuhr Graal hoch und zerdrückte sein Kristallglas zwischen den Fingern. Es zerbrach, und lange Splitter gruben sich in Graals Hände, während der Branntwein über die Wunden floss und auf den Boden tropfte, wo er, vermischt mit rotem Blut, in den Teppich sickerte. Graal zuckte nicht zusammen, würdigte die Wunde nicht einmal eines Blickes, sondern unterbrach den Blickkontakt mit Dagon nicht.
»Ja, General«, flüsterte Dagon.
»Da wäre noch etwas.«
»General?« Dagons Stimme war nur mehr ein Flüstern.
»Alloria. Leanorics Königin. Die Mutter seiner beiden Söhne. Sie ist sein Rückgrat, hab ich recht? Seine Liebe, sein Leben, seine Stärke. Ich will wissen, wo sie ist, wohin sie im Winter reist, wer ihre Hofdamen sind und mit welcher Hand sie sich den Hintern abwischt.«
»Alloria? Aber … ich habe zugestimmt, Euch über die Armee, die militärischen Strategien und über Leanoric zu unterrichten …«
Graals Hand zuckte vor und packte Dagon an der Kehle. Kristallsplitter, die noch in Graals Haut steckten, bohrten sich in Dagons Fleisch, und er heulte auf, zappelte mit den Beinen, als Graal ihn mühelos vom Boden hochhob. »Ihr werdet mir alles erzählen. Leanoric ist zweifellos ein würdiger Gegner; aber wenn ich ihm den Grund für sein
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