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Kells Legende: Roman (German Edition)

Kells Legende: Roman (German Edition)

Titel: Kells Legende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Remic
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starken Strömung, über den Fluss, aber schließlich wichen die Ufer zurück, und das heftige Schaukeln legte sich. Nienna saß wie betäubt da, schmiegte sich an Kat, Wärme suchend und wegen der Kraft, die sie aus ihrer Freundschaft schöpfen konnte. Sie hatte zugesehen, gefangen wie in einem Traum, wie ihr Großvater, der alte Kell, gegen den Schnitter gekämpft hatte. Ihr war bewusst gewesen, dass diese Kreatur ihn in jedem Augenblick hätte töten können, dass sie ihm mit ihren langen, knochigen Fingern das Leben hätte aussaugen und ihn zu einer leeren Hülle hätte machen können. Und doch war es ihr vorgekommen, als würde sie ein Theaterstück auf einer Bühne verfolgen, weil es so unwirklich schien, so weit jenseits ihrer Vorstellungskraft, ihren Großvater kämpfen zu sehen. Es konnte einfach nicht stimmen. Er war ein alter Mann. Er kochte Suppe. Er erzählte ihr Geschichten. Er beklagte sich wegen seiner Rückenschmerzen. Er stöhnte über die Preise für Fisch auf dem Markt. Irgendwie passte das alles einfach nicht zusammen.
    »Geht es dir gut?« Kat umarmte sie kurz.
    Nienna blickte hoch, in Kats mit Blut und Gift bespritztes Gesicht, nickte und lächelte schwach. Dann holte sie tief Luft. »Ja, Kat. Ich denke einfach nur nach. Alles war so verrückt. So unbändig, grausam! Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser unerbittliche, todbringende Mann … dass das da eben mein Großvater gewesen ist.«
    Kat erinnerte sich an die Situation zuvor im Tunnel, an die grausame Erkenntnis, dass Kell sie gnadenlos dem Tod überlassen hätte. Sie sagte nichts und nickte nur. Ein Schleier aus Eis schien ihr Herz einzuhüllen und ein weiteres kleines Stück ihrer Menschlichkeit mit bitterem Zynismus zu ersticken.
    »Wir werden es schaffen«, meinte Nienna. Sie missverstand Kats inneren Aufruhr und ihre Furcht, die nicht der Welt draußen, sondern dem Mann in ihrem Boot galt. »Wir stehen das durch, du wirst sehen. Wir gehen wieder zur Universität. Alles wird gut.«
    Kat lachte, kurz und bitter. »Tatsächlich, Nienna? Für dich vielleicht, du mit deiner beschützten Kindheit, deiner liebenden Mutter, deinem hingebungsvollen Großvater, die sich alle um dich kümmern, dich stützen und für dich da sind. Ich hatte nie etwas dergleichen.« Ihre Stimme klang ätzend, als wäre sie mit Säure gefüllt. »Ich war immer allein in dieser Welt, ganz allein, und das für eine sehr lange Zeit, meine süße, kleine, verwöhnte Nienna. Ich habe mir jeden Schritt des Weges zur Jalder-Universität erkämpfen müssen; ich habe gelogen, betrogen, gestohlen, um aus dieser stinkenden Gosse herauszukommen und mir ein besseres Leben zu ermöglichen, eine bessere Zukunft. Für mich ist niemals jemand da gewesen, Nienna.«
    »Und was ist mit deiner Tante? Die dich erzogen hat, nachdem deine Eltern gestorben sind? Die dir Brot gebacken, deine Kleidung gewaschen und dir Perlen in deine Zöpfe geflochten hat?«
    Kat lachte erneut und blickte auf die gefrorene Böschung des Flusses. Die Bäume waren voller Schnee, über den Feldern hing der Nebel, und sie ließen die Stadt rasch hinter sich. Der reißende Selanau trieb sie schnell nach Süden. »Meine Tante? Die hat es nie gegeben. Ich habe in Tavernen gelebt, auf Tennen, in Heuschobern, wo auch immer ich einen Platz finden konnte. Ich habe mich in die Häuser von Kaufleuten geschlichen, ihre Bäder benutzt, ihren Bediensteten Kleidung gestohlen, Brot aus dem Ofen stibitzt und Suppe aus brodelnden Töpfen. Ich war wie ein Geist. Ein Dieb. Ein sehr geschickter Dieb.« Sie lachte erneut, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Ich bin immer allein gewesen, Nienna. Ich war immer ein Kämpfer. Und jetzt … jetzt ist alles weg, hab ich recht? Die Universität? Das Leben in Jalder? Alles, wofür ich gekämpft habe, hat mir dieser Tyrann einfach so, mit einem Schnippen seiner räudigen Finger, geraubt.«
    »Ich bin jetzt für dich da«, antwortete Nienna. Sie klang kleinlaut, aber sie umarmte Kat.
    »Am Ende lässt mich jeder im Stich.«
    »Nein! Ich werde für dich da sein. Immer! Bis zu unserem Tod.«
    »Bis zu unserem Tod?«
    Nienna drückte ihre Freundin, nahm ihre Hände, presste ihre kalte Haut, ihre gefrorenen Finger, und umarmte sie, wie die Schwester, die sie nie gehabt hatte. »Das schwöre ich bei meiner Seele«, flüsterte sie.
    Das Boot war langsamer geworden, und nach wenigen Stunden hatten sie endlich die letzten Reste des Eisrauchs und des Nebels hinter sich gelassen.

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