Kells Legende: Roman (German Edition)
zusammenzureißen, und griff nach einem winzigen, irdenen Krug. Ihre Hand schwebte über dem Griff des Kruges, der aufwändig dekoriert war, mit uralten Schlachtszenen und den Abbildern von Helden aus Falanors langer, turbulenter Geschichte.
»Nein.« Das Wort hallte laut und gebrochen durch das leere Gemach, trotz der Vorhänge und Felle und der vielen Wandteppiche, welche die Wände schmückten und ebenfalls die Geschichte von Falanor darstellten.
Ihre Hand zuckte von dem Krug zurück und schwebte einen Augenblick unsicher in der Luft; sie spürte, wie die Schwäche sie überkam, von den Zehen bis zu ihrem Herzen hochstieg, wie ein Zauberstab eines der Alten. Ihre Hand zuckte nach vorn, schlug ungeschickt den Verschluss von dem Krug, der klappernd auf die marmorne Tischplatte fiel. Alloria verkniff sich einen Fluch, ersparte sich, einen Blick in den Krug zu werfen, sondern befeuchtete nur einen Finger mit den Lippen und steckte ihn in das dunkelblaue Pulver, das sich darin befand. Dann starrte sie im Spiegel in ihre großen, grünen Augen, als sie sich das Pulver unter die Zunge rieb. Sofort genoss sie die entspannende Wirkung von Karissia Blau, das in ihr Blut drang, in ihren Verstand. Ihr war klar, dass es ihre Schwäche und eine besondere Angst vor ihrer Vergangenheit waren, die sie dazu brachte, sich dieser seltenen Droge hinzugeben. Das war keine Entschuldigung, aber sie hatte sich schon früher darauf verlassen, in jenen schlimmen Tagen, als alles so unsicher war und schiefzulaufen schien. Schon bald pulsierte Karissia Blau in ihr, strömte durch ihre Adern, getrieben von ihrem Herzschlag. Die Welt begann zu schwanken, und Alloria entkleidete sich rasch, stieg in ihr Bett und schlief augenblicklich ein. Ihre Träume waren voller Farbe und Schönheit und von einem wundervollen Blau getönt.
Als Alloria erwachte, war es dunkel, und die Welt fühlte sich irgendwie falsch an. Sie konnte den bitteren Geschmack der Droge im Mund schmecken, und sie fragte sich, wie lange sie wohl unter ihrer Wirkung gedöst hatte. Eine Stunde? Drei Stunden? Sie setzte sich auf, orientierungslos und von einem leichten Ekelgefühl geplagt. Sie erschauerte, stieg aus ihrem Bett, zog einen langen, seidenen Morgenmantel an, steckte die Füße in dicke Pantoffeln und ging zum Wasserkrug. Sie trank so gierig, als wäre sie völlig ausgetrocknet, eine Nachwirkung von Karissia Blau, und erst jetzt, als ihr Verstand allmählich erwachte, drangen die Fragen in ihren Kopf …
Warum waren die Laternen nicht angezündet worden? Sowohl in ihrer Kammer als auch draußen, auf den gepflasterten Wegen? Normalerweise waren die Gärten vom Licht vieler Lampions erfüllt. Alloria konnte sich nicht vorstellen, dass die Lichtwächter ihre Pflicht vergessen hatten.
Müde trat sie zu den Doppeltüren ihrer Kammer und öffnete eine davon einen Spalt weit. Draußen schien der ganze Herbstpalast von einer samtenen Stille überzogen zu sein. Alloria lauschte nach dem vertrauten Geräusch der Schritte der Wachsoldaten, dem schwachen Klirren ihrer Rüstungen. Nichts. Sie öffnete den Mund, um zu rufen, überlegte es sich dann jedoch anders und schloss ihn wieder.
Wo waren Erran und die anderen Wachen? Während der Dunkelheit waren normalerweise zwei Männer vor ihren Schlafgemächern postiert. Wo waren sie? Es war einfach undenkbar, dass sie sich eigenmächtig von ihren Posten entfernt hatten.
Sie suchte mit dem Blick die Dunkelheit ab, und eine Gänsehaut lief ihr über die Arme. Irgendetwas stimmte nicht, etwas stimmte ganz und gar nicht. Sie spürte es, in ihrem Blut und in ihren Knochen. Langsam und lautlos schloss sie die Tür wieder. Sie besaß ein Kurzschwert, das sie spöttisch Schnitzmesser nannte. Es lag neben ihrem Bett, also schlich sie zurück, ging lautlos dorthin, wo es lag. Sie zuckte leicht zusammen, als sie die Klinge zückte, denn es ertönte das leise Singen von geöltem Stahl auf Leder. Aber sie fühlte sich besser mit dem Schwert in der Hand. Sie wusste es sehr wohl zu benutzen, wusste, wie sie sich verteidigen musste. Allerdings war sie in Wirklichkeit bisher noch nie gezwungen gewesen, jemanden zu töten, und ganz tief in ihrem Unterbewusstsein fragte sie sich, wie sie wohl reagieren würde, sollte sich diese Notwendigkeit ergeben.
So stand sie in der Dunkelheit, unsicher, was sie tun sollte.
Dann brach eine Stimme das Schweigen, eine kühle, klare Stimme, und dazu viel zu arrogant. »Was habt Ihr denn mit dem Schwert vor, süße
Weitere Kostenlose Bücher