Kells Legende: Roman (German Edition)
graue Gliedmaßen entfalteten sich, Fäuste wurden sichtbar, von denen jede die Größe eines ausgewachsenen Mannes hatte, und verdrehte Gliedmaßen, die nur noch schwach an den Löwen erinnerten, den sie einst hatten darstellen sollen …
»Es ist ein Steinlöwe!«, kreischte Nienna, als Kell sie erreichte. Er zog sie in seine Arme, schüttelte sie.
»Bist du verletzt?«
»Nein! Es hat uns gerettet! Es hat mich und Kat vor dem Canker gerettet!«
Ein Geräusch erhob sich brummend im Wald. Es war ein uraltes Geräusch, wenn Geräusche denn ein Alter haben können; es klang, als käme es vom Anfang der Zeiten. Es waren nicht wirklich Worte, sondern Musik, ein Lied, ein Lied, erzeugt von Steinen und Holz und Feuer. Es schwoll an, sowohl in der Tonhöhe als auch an Lautstärke, bis es zu einem Brüllen wurde. Kell warf einen Blick über die Schulter und sah die Furcht in Saarks Augen, hörte das hohe, protestierende Wiehern ihrer Pferde, die an ihren Zügeln zerrten. Er nahm Nienna seine Axt aus der Hand, seine Ilanna. Sie schmiegte sich in seine Hände wie weiches, warmes, weibliches Fleisch, und sie war da, bei ihm. Im selben Augenblick versiegten seine Aufregung und seine Furcht, und Kell war wieder der Alte, war wieder vollständig. Er begriff in diesem verrückten Moment, wie tief seine Sucht und sein Bedürfnis nach dieser Axt in seinem Schädel saßen, in seinen Knochen, seinem Blut, seiner Seele. Ilanna war seine Retterin, doch mehr noch war sie auch sein Fluch.
»Es sagte, es würde dich töten!«, zischte Nienna. Sie sah nicht Kell an, sondern die Kreatur, die sich am Ende der Schneise immer noch erhob. »Es sagte, wir würden vom Forst geschützt wegen unserer … Unschuld. Aber es wusste, dass du kommen würdest, du und Saark; es sagte, ihr wäret verderbt. Fehlgeleitet. Ihr wäret keine Kreaturen des Forsts der Steinlöwen . Es sagte, es würde euch fressen, so wie es den Canker gefressen hat …«
»Geht zu Saark!«, befahl Kell grimmig. Er schnappte sich Kat und schob sie hinter Nienna her. Die beiden Mädchen flüchteten durch die grüne Schneise. Ein eisiger Wind fegte heran, erfüllt vom Duft nach Eis und Blättern, verrottenden Zweigen, Baumharz, schimmernden Kiefernnadeln, wilden Pilzen und Blumenzwiebeln.
Kell packte Ilanna fester und stellte sich dem Steinlöwen.
Sein Gebrüll erstarb, und er bückte sich, trat in die Schneise. Das Wesen war fünf- oder eher zehnmal so groß wie ein Mann, vollkommen missgestaltet, geschaffen aus Stein und Holz, aus Erde und Bäumen und aus uraltem Silberquarz. Es war eine gemeißelte Statur, etwas Lebendiges, ein Dämon aus dem tiefsten Forst, ein Geist der Finsternis, und sein Gesicht aus Holz und Stein, obwohl bis zur Unkenntlichkeit verwittert, blickte auf Kell herab. Der alte Krieger hätte schwören können, dass es grinste.
Er warf einen Blick zurück und packte seine Axt fester. »Saark!«, brüllte er. »Lauf zu den Pferden! Schaff die Mädchen hier weg!«
Saark nickte, und die drei flohen von der Schneise.
Kell drehte sich wieder zu dem Steinlöwen herum. Das Wesen grollte, ein tiefes, langes, knurrendes Geräusch, und machte ein paar zögerliche Schritte, als würde es ausprobieren, ob seine Beine noch funktionierten. Dann senkte es den Kopf, sein Rückgrat knackte, und es brüllte Kell an; sein heißer Atem schlug dem Krieger ins Gesicht und stank nach verfaulendem Holz, nach Schwefel, Humus und Tod.
Kells Bart wehte ihm um den Kopf, und er biss die Zähne zusammen, während sein Gesicht sich zu einem wütenden Knurren verzerrte.
Gib mir dein Blut , sagte Ilanna. Ihre Stimme klang wie süße Musik in seinen Ohren, aber Kell wappnete sich dagegen, denn er kannte die Falle, wusste, wie sie funktionierte. Er war schon einmal hereingelegt worden, war von Ilanna benutzt worden … was zu verheerenden Ergebnissen geführt hatte.
»Du weißt, dass ich das nicht kann!«
Du willst nicht!
»Stimmt genau, denn ich erinnere mich noch sehr gut an das letzte Mal«, murmelte er, während der Steinlöwe einen weiteren Schritt auf seinen verdrehten Beinen nach vorne machte. Dabei musterte das Wesen Kell, und sein Blick fiel auf die Axt in seinen Händen. Es legte seinen Kopf auf die Seite, beinahe … fragend.
Es wird mich zerschmettern, dachte er. Wie soll ich etwas bekämpfen, das so … groß ist?
Diesmal wird es anders sein , versprach ihm Ilanna. Ich werde ein braves Mädchen sein. Das verspreche ich dir. Ich werde diese erbärmliche Kreatur aus
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