Kells Legende: Roman (German Edition)
Mut. Trotzdem, Elias verzog grimmig das Gesicht, war er dieser Aufgabe gewachsen.
In dieser Nacht schlug er sein Lager in einem Gehölz von Blautannen auf, eingewickelt in seine dicke Bettrolle aus Pelzen. Er wurde wach, als Schnee sein Gesicht streifte. Dann blickte er hoch auf die dicken Zweige der Nadelbäume, die sich über ihm erstreckten. Ihr Duft drang ihm in die Nase, und er betrachtete den tintenschwarzen Himmel darüber. Es schneite jetzt stärker, und Elias’ Zuversicht schwand. Der Feind, der Alloria gefangen genommen hatte, hatte einen sehr großen Vorsprung. Der Schnee würde ihn zwar aufhalten, aber er zwang auch ihn, Elias, langsamer zu reiten. Er konnte nur hoffen, dass sie mit einem Karren oder einer Kutsche reisten, oder zu Fuß. Allerdings bezweifelte er das. Sie hatten immerhin die Königin von Falanor entführt; also würden sie schnelle Pferde reiten und sie gnadenlos antreiben, um so viel Abstand wie möglich zwischen Falanors Adlerdivisionen und ihre Beute zu legen. Sobald sie jedoch das Schwarzspitz-Massiv erreicht hatten, war Elias verloren, das war ihm klar. Diese Gebirgskette war sehr tückisch, ihre Täler und schmalen Pässe waren das reinste Labyrinth, und sobald seine Widersacher sich unter die Fittiche dieser Berge geflüchtet hatten, war die Königin für Elias verloren. Und selbst wenn es ihm gelänge, sich zu diesem Silvatal durchzuschlagen, was würde er dort vorfinden? Eine Armee, die bereits auf ihn wartete? Eine Division aus grinsenden Soldaten? Er fluchte insgeheim. Er musste sie vor den Schwarzspitzen abfangen. Er musste seine Königin retten, bevor sie dieses tödliche Labyrinth betrat …
Noch vor Tagesanbruch brach er auf, getrieben von seiner zunehmenden Panik sowie der Frustration wegen seiner ständig wachsenden Gewissheit, dass er mit seiner Mission scheitern würde.
Elias trieb den Hengst hart an, zu hart, das wusste er. Kurz nach Mittag, als der Schnee mittlerweile die Hufschläge des Tieres auf der Großen Nordstraße dämpfte, stieß er auf ein Dorf. Er lenkte sein Ross von der Straße herunter, nach Osten, über einen gefrorenen, ausgetretenen Karrenweg. Doch etwa hundert Meter vor der willkürlichen Ansammlung von bunt durcheinandergewürfelten Hütten und Katen blieb er stehen. Sein Hengst schnaubte und stampfte unruhig im Schnee.
Irgendetwas stimmte da nicht, das spürte Elias. Der eisige Wind spielte mit seinem Kragen, und ihn fröstelte. Unbewusst lockerte er sein Schwert in der Scheide, während er seinen Blick sorgfältig von links nach rechts schweifen ließ und dann wieder zurück.
Nichts rührte sich. Keine Hühner liefen gackernd durch die Gärten, keine Kinder lärmten, niemand ging über die Straßen, und es stand auch niemand vor dem Haus, rauchte Pfeife und tratschte. Elias kniff die Augen zusammen und stieg ab. Er kam sich zwar albern vor, doch gleichzeitig fühlte er den Zwang, sein Schwert zu ziehen und die Zügel seines Pferdes fallen zu lassen. Er näherte sich dem verlassenen Dorf, das Schwert in Hüfthöhe gezückt, während er nach dem Feind Ausschau hielt …
Aber wer ist dieser Feind?, verspottete ihn sein Unterbewusstsein.
Die Eiserne Armee? Hatte sie bei ihrer gewaltigen Invasion von Falanor kurz innegehalten, um ein winziges, unbedeutendes Dorf auszulöschen?
Die Antwort auf diese Frage lautete: ja.
Elias blieb am Anfang der Straße stehen und starrte über den gefrorenen Schlamm und den frisch gefallenen Schnee auf die Leichen, welche die Straße säumten. Er kniff die Augen noch stärker zusammen. Es waren Leichen, zweifellos, aber als er sie genauer betrachtete, kamen sie ihm eher vor wie …
»Bei allen Göttern!«, zischte er. Seine Haut schien vor Kälte zu erstarren, und das Blut schien in seinen Adern zu gefrieren, während er die Augen weit aufriss, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste und sein Schwert ungewöhnlich fest umklammerte. »Was bei den neun Höllen hat dies hier verursacht?«
Er blieb neben einem alten Mann stehen, der mit dem Gesicht nach unten am Boden lag; seine Gestalt war geschrumpft, seine Haut, so dünn wie Pergament, spannte sich über spröde, zierliche Knochen. Elias sank auf ein Knie, der Schnee unter ihm knirschte, er rollte den alten Mann auf den Rücken … schrie auf und fuhr hastig zurück. Es war keineswegs der Leichnam eines Greises, sondern der einer jungen Frau, deren Fleisch vertrocknet zu sein schien und deren Haut sich über ihren grinsenden Totenschädel spannte
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