Kells Rache: Roman (German Edition)
Sie war, geführt von Saark, bereits ein ganzes Stück weitergegangen. Kell drehte sich um und setzte sich in Bewegung, ließ die Blutlachen des Cankers hinter sich. Ein paar Schritte später blieb er erneut stehen. Er blickte an der Stelle in den Abgrund, an der Myriam abgestürzt war, und versuchte, ihren Leichnam auf den tief unter ihm liegenden Hängen und zerklüfteten Felsvorsprüngen zu entdecken. Vergeblich.
»Verdammt!«, fauchte er und setzte dann, so schnell er konnte, den Weg über den Grat fort. Er schien keine Angst vor der großen Höhe oder den gewaltigen Abhängen zu haben, die auf beiden Seiten des schmalen Grats hinabführten. So etwas wie Höhenangst kannte Kell nur aus den Geschichten anderer Leute.
Saark und Nienna gingen derweil weiter, durch den wabernden Dunst. Kell holte sie ein, als sie sich gerade anschickten, den nächsten Gipfel zu erklimmen. Sie hatten einen Hang erklommen, einen steilen Geröllhang, der sein Bestes tat, sie allesamt den Berg wieder hinabzuschleudern. Da frischte der Wind auf, der Nebel um sie herum hob sich, und die Welt des Schwarzspitz-Massivs öffnete sich vor ihnen, als hätte ein Gott den Gipfel der Welt abgeschält.
»Bemerkenswert«, sagte Nienna schlicht.
Kell grunzte.
Saark half dem alten Krieger die letzte Geröllhalde hin auf, dann standen sie schweigend da und betrachteten dies e schwarze Wildnis aus Granit und ausgedehnten Schneefeldern. Dort, wo sie standen, war es ziemlich hell, wenngleich der Wind auch wie mit Eismessern in ihre Haut schnitt.
»Das vorhin hast du gut gemacht«, erklärte Saark.
»Ich bin wieder zurückgefallen«, antwortete Kell.
»Soll heißen?«
»Irgendetwas ist mit mir passiert. Mit Ilanna. Irgendetwas Schlechtes.«
»Verstehe ich nicht.«
»Ich glaube, das kann nur Ilanna verstehen. Manchmal, mein guter Saark, spielt sie ihr eigenes Spiel, denke ich. Sie hat den Seelenfressern ein Lied vorgesungen. Da existierte irgendeine Verbindung, nur weiß ich nicht, welche. Aber die beiden haben sich zurückgezogen. Genauer gesagt, sie sind geflüchtet.«
»Du hast den Canker getötet. Vielleicht hatten sie ja einfach Angst vor dir?«
»Nein«, knurrte Kell, rieb sich den Bart und stützte sich auf die Axt. Ihre Schneiden schimmerten schwarz in dem kalten Winterlicht. »Nein, ich glaube eher, sie hatten Angst vor Ilanna.«
»Wohin gehen wir jetzt?«, erkundigte sich Nienna, die sich fester in ihren Umhang hüllte und auf den Boden kauerte. Ihr Gesicht wirkte abgezehrt, aschfahl, und ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Myriams Tod hatte sie erschüttert.
Kell streckte eine Hand aus und deutete auf eine Stelle, wo sich ein riesiger Berg hoch über alle anderen erhob. Es war ein beeindruckender Gipfel, selbst aus dieser Entfernung. Zwei überhängende Felsen schienen Hörner zu bilden, die in der Nähe des Gipfels aus dem Berg herauswuchsen, so dass dieser besondere Berggipfel dem Schädel eines Widders ähnelte.
»Skaringa Dak«, sagte er. »Auch bekannt als Höllspitz oder Gipfel der Kriegsfürsten.«
»Das ist mal ein hässlicher Berg«, meinte Saark. »Und er ist groß. Viel zu groß, Kell. Sieh dir nur an, welche Entfernung wir überwinden müssen, um dorthin zu gelangen! Wir können Nienna unmöglich den ganzen Weg dorthin schleppen.«
»Wir müssen! Aber sei versichert, wir gehen durch die Berge, nicht darüber hinweg.«
»Kell, du redest von Silvatal! Das ist eine ganze Zivilisation, bei allen göttlichen Hoden! Du kannst nicht gegen die ganze Welt kämpfen, alter Freund.«
»Ein Schritt nach dem anderen«, meinte Kell.
Saark seufzte, und Nienna trat zu ihm. Sie umarmte ihn. »Ich kann nicht glauben, dass Myriam tot ist«, sagte sie. Saark nickte, erwiderte jedoch nichts. Es überraschte ihn nicht, und er musste zugeben, dass er sich ihren Tod gewünscht hatte. Aber jetzt, nachdem es passiert war, stachen die Gewissensbisse ihn wie winzige Messer in den Bauch. Sie war ein Opfer des Krebses gewesen, der ihren Körper zerfraß, ihre Knochen. Und sie hatte sich dem Wahnsinn ausgeliefert, um einen unmöglichen Traum zu verfolgen. Ihre einzige Belohnung war, dass sie jetzt tot und zerschmettert, wie eine kaputte Puppe, am Fuß der schrecklichen Schwarzspitzen lag.
»Ja«, sagte er schließlich und umarmte Nienna fest. Es war eine einfache Umarmung, ein Austausch von Wärme und Menschlichkeit. Was an diesem düsteren Ort aus Stein und Eis auch irgendwie dringend notwendig war.
»Kommt weiter«, meinte Kell. »Wir haben
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