Kells Rache: Roman (German Edition)
Angelegenheit.
Furcht durchzuckte sie bei diesem Gedanken, und sie leckte sich die trockenen Lippen. Sie hatte einen schrecklichen Geschmack im Mund. Er schmeckte nach Krebs. Sie verzog das Gesicht, und ihr Magen krampfte sich vor Schmerz zusammen. Ruckartig konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart; sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Und das karge Waldgebiet in den niedrigen Vorgebirgen, das zu den gewaltigen Ausläufern des Schwarzspitz-Massivs führte, hatte nur wenig Wild. Also musste sie hart arbeiten, wenn sie ein Abendessen wollte.
Doch Myriam war eine sehr geschickte Jägerin. Vor ihrer Erkrankung hatte sie dreimal hintereinander beim Vohr- Sommerfest den Goldenen Bogen gewonnen. Jetzt jedoch fraß der Krebs an ihr, raubte ihr die Kraft, so dass sie nicht mehr so genau zielen konnte. Dennoch war sie immer noch eine fantastische Bogenschützin.
Myriam kroch durch das Unterholz, setzte behutsam ihre Füße auf die harten Erde und die vereinzelten Schneeflächen. Sie achtete auf jeden Schritt, blieb häufig stehen und sah sich langsam um. Ihre Ohren zuckten, wenn sie lauschte, und ihr Verstand verband sich mit den Winterbäumen.
Dort!
Sie sah das Wild, eine junge Hirschkuh, die nach Nahrung suchte. Waren ihre Eltern in der Nähe? Das Letzte, was Myriam brauchte, war ein Kampf mit einem wütenden Hirsch; selbst wenn sie ihn gewann, machte es das Fleisch verdammt zäh.
Sie sah jedoch nichts, sank behutsam auf die Knie, kontrollierte ihre Atmung, regulierte sie, während sie einen Pfeil auf die Sehne nockte. Mit einer langsamen, ganz langsamen, bemessenen Leichtigkeit spannte sie den Bogen, hielt die Spannung mit ihren schwach zitternden Muskeln.
Der Pfeil zischte zwischen den Bäumen hindurch, traf die junge Hirschkuh von hinten, zwischen die Schulterblätter, bohrte sich in die Lungen und das Herz. Es war ein sauberer Schuss, der augenblicklich tödlich wirkte. Die Hirschkuh stürzte zu Boden. Freude durchzuckte Myriam. Sie war stolz auf ihre Geschicklichkeit. Dann stand sie auf, und das Lächeln wich aus ihrem Gesicht, wie Eis unter der Sonne schmilzt.
Tod. Sie erschauerte. Tot.
Myriam ging zu der Hirschkuh und zückte ein langes Messer; gekonnt schnitt sie die besten Fleischstücke aus dem Tier heraus und stopfte sie in einen Sack. Dann stand sie auf, sah sich um und runzelte die Stirn. Irgendetwas fühlte sich falsch an, doch sie wusste nicht genau, was es war. Aber Myriam traute ihren Sinnen, sie waren scharf und verlässlich. Wenn sich das Element, das sich irgendwie falsch anfühlte, nicht hier befand, musste es im Lager sein. Sie mahlte mit den Kiefern.
Myriam bewegte sich wie ein Geist zwischen den Bäumen hindurch. Die Welt um sie herum war stumm, erfüllt von Schnee und Eis, nur unterbrochen von einem kurzen Prasseln, wenn Schnee von den Zweigen der Bäume herunterrauschte.
Sie erreichte das improvisierte Lager. Der Baumbestand wurde spärlicher, wo sich gewaltige Felsbrocken in den Himmel erhoben und ihr Blickfeld ausfüllten. Myriams Mund wurde trocken, denn das Schwarzspitz-Massiv bot wahrhaftig einen erhabenen Anblick. Die Reihe von gewaltigen Gipfeln erstreckte sich vom Rand der Welt bis zum anderen Rand der Welt über ihr gesamtes Blickfeld. Die Gipfel, die sie sehen konnte, erhoben sich schwarz und erbarmungslos in den Himmel hinauf, manche mehr als dreitausend Meter hoch. Und dahinter, das wusste sie, wurden die Bergspitzen noch viel größer, furchteinflößender und erheblich wilder.
Myriam blieb stehen und legte den Kopf schief. Es war ruhig im Lager, viel zu ruhig. Ihr Blick glitt nach rechts, wo sie den schmalen Pfad erkennen konnte, der von der Großen Nordstraße zum gähnenden Schlund des Cailleach-Passes führte. Kell musste irgendwann über diesen Weg kommen, den Kopf gesenkt, während das Gift an ihm fraß. Er würde sie um das Gegenmittel bitten, auf dass sie ihn von seinen Schmerzen erlöste. Er würde sie anflehen, ihm die Kehle durchzuschneiden und seine Qualen zu beenden. Nur würde Kell das niemals tun; er würde an Nienna denken, an ihr Leiden und daran, wie er sie retten konnte.
Ein kalter Wind fegte um sie herum, und Myriam fröstelte. Schnee fiel prasselnd von den Zeigen der Bäume hinter ihr, und sie zuckte zusammen. Erst jetzt begriff sie, dass sie den Sack mit Fleisch fallen gelassen und stattdessen einen Pfeil auf ihren Bogen eingenockt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Kell, schien der Wind zu flüstern. Kell. Er wird dich ausnehmen
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