Kells Rache: Roman (German Edition)
Versuch sterben!«
Myriam hockte neben dem stehenden Gewässer. Sein Rand war mit Eis überzogen. Die Schichten des Eises schienen unendlich zu sein. Ihre Kanten bestanden aus Milliarden von zersplitterten und scharfkantigen Kristallen. Wunderschön, dachte sie und atmete sacht und kontrolliert. Dann zuckte ihr Blick hoch, über das Eis hinweg, auf ihr eigenes Spiegelbild. Sie schloss den Mund mit einem Klacken, und die Muskeln an ihrem Kinn traten hervor, als sie die Zähne zusammenbiss. Hier jedoch, sagte sie sich, stirbt die Schönheit.
Ihr kurzes schwarzes Haar hatte sie früher einmal lang getragen. Es war einmal eine üppige Mähne gewesen, die die Männer fast in den Wahnsinn getrieben hatte, weil sie es unbedingt streicheln, es berühren wollten. Jetzt schnitt sie es kurz, weil sie Angst hatte, dass seine glanzlose, spröde Textur den Leuten verriet, was mit ihr los war, ihnen sagte, dass sie starb.
Denn Myriam lag im Sterben. Es fiel ihr immer noch schwer, das zuzugeben, es laut auszusprechen. Wenigstens hatte sie es jetzt über sich gebracht, es sich irgendwie selbst einzugestehen. Ein Jahr lang hatte sie diese Tatsache verleugnet, selbst während sie miterlebte, wie ihr eigenes Fleisch allmählich von ihren Knochen wich. Sie hatte sich unaufhörlich betrogen, hatte sich eingeredet, dass es wieder vergehen würde, wenn sie nur besser aß, mehr übte, die richtige Medizin fand. Dann würde sie wieder gesund werden. Doch seit nunmehr drei Jahren war sie ständig schwächer geworden, hatte abgenommen, während der Schmerz ihre zierliche Gestalt peinigte. Sie hatte früher oft gescherzt, dass die fetten, prallen Weiber in Kallagria ein Vermögen dafür zahlen würden, wenn sie eine Figur hätten wie sie; jetzt jedoch scherzte sie nicht mehr. Als wäre ihr jeder Humor mit einem mit Widerhaken besetzten Speer herausgerissen worden und hätte stattdessen eine klaffende Wunde zerfetzten Fleisches hinterlassen.
Myriam war durch ganz Falanor gereist, um ein Mittel gegen ihre Krankheit zu finden. Sie hatte am Ende die besten Ärzte in Vohr aufgesucht und ein kleines Vermögen in Gold – geraubtes Gold, gewiss – für die Behandlung ausgegeben, für die Medizin, die merkwürdigen Kuren. Aber nichts hatte angeschlagen. Das Einzige, was ihr diese ungeheuren Kosten eingebracht hatten, war Wissen.
Sie wusste jetzt, dass zwei Tumore in ihr wuchsen, jeder etwa von der Größe einer Faust. Sie waren wie Parasiten, aber während einige Parasiten symbiotisch waren, was bedeutete, sie hielten den Wirt am Leben, damit sie ebenfalls leben konnten, verhielten sich diese Tumore ignorant. Sie töteten den Wirt, der sie ernährte. Ihr einziger kleiner Triumph würde es sein, dass die Tumore ebenfalls starben. Gewiss. Aber erst, wenn Myriam gestorben war.
Jetzt starrte sie in ihr Spiegelbild, betrachtete ihr abgemagertes Gesicht, die gespannte Haut, die sich über ihren Schädel zog und deren Anblick sie erschauern ließ. Früher einmal waren Männer und Frauen ihr in Scharen nachgelaufen. Jetzt ertrugen sie es nicht einmal mehr, auch nur im selben Raum mit ihr zu sein, als hätten sie Angst, sich irgendeine schreckliche Krankheit einzufangen.
Ich bin ein armseliges Geschöpf, das begriff Myriam. Dann durchzuckte sie der Ärger. Ich will ihr verdammtes Mitleid nicht! Ich will mein Scheißleben zurückhaben! Ich existiere auf diesem stinkenden Ball von Schmerzen erst seit neunundzwanzig Wintern. Neunundzwanzig! Ist das ein Alter zum Sterben? Verhöhnen mich die Götter, verspotten sie mich mit ihrem perversen Sinn für Humor? Wie gerecht ist es, dass andere, böse Männer und Frauen oder nutzlose, dumme, hirnlose Männer und Frauen dass sie alle leben dürfen und ich nicht? Wer hat diese Entscheidung für mich getroffen? Welche stinkende, schwachsinnige Gottheit hat das für lustig gehalten?
Tränen liefen ihr über die hageren Wangen, während sie das Bedürfnis, ihre Angst und ihren Schmerz und ihre Enttäuschung in den eisigen Wald hinauszuschreien, unterdrückte. Nein. Sie atmete tief durch. Und tat dann, was sie immer tat. Sie konzentrierte sich auf diesen Tag. Und dachte an den nächsten Tag. Sie musste einen Tag nach dem anderen nehmen, Schritt um Schritt um Schritt, bis … bis sie Silvatal erreichten. Dort, das wusste sie, gab es eine Technologie, die sie heilen konnte. Mit Uhrwerk, Blutöl und dunkler Vampirmagie.
Wie sie die Vachine überreden sollte, ihr zu helfen – nun, das war eine vollkommen andere
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