Kells Rache: Roman (German Edition)
nahm einen tiefen Schluck. Honig rann in seine Adern. Er dachte an Nienna, und ihm war elend zumute. Er wusste, dass er niemandem etwas nützte, wenn er sich betrank, am wenigsten seiner armen, entführten Enkelin. In dem Moment wurde ihm klar, dass er eigentlich die Flasche auf die Straße schleudern, zu seinem Pferd gehen und zu ihr reiten sollte, zur Festung Cailleach. Aber das tat er nicht. Sein Verstand schien zu bröseln, sich aufzulösen, wie eine Schlammmauer vor einer Springflut.
Er ging in eine schmale Straße, ohne zu wissen, wohin sie ihn führte. Der Whisky schmeckte gut, lief heiß durch seine Kehle. Er sehnte sich nach mehr. Nach viel mehr. Er wusste, wie alle Trinker, dass er den Vorwand der Schmerzen des Giftes in seinen Adern anführen konnte. Aber tief in seinem Herzen war ihm klar, dass er nur sich selbst betrog. Er brauchte keinen Whisky, um den Schmerz zu überdecken. Er konnte den Schmerz aushalten. Er hatte weit Schlimmeres ertragen, erheblich viel Schlimmeres. In Wirklichkeit brauchte er den Whisky, weil er den verdammten Whisky brauchte. So einfach war das.
Kell blieb stehen und kniff die Augen zusammen. »Das kann nicht sein«, knurrte er und ging bis zum Ende der Straße. Dann lachte er bellend, strich sich durch den Bart und anschließend durch sein grau meliertes Haar. »Ich will verdammt sein!« Gleichzeitig war ihm die wundervolle Ironie klar. Erst wenn das Gift zu weit durch seine Adern dran g, in seine Organe und in sein Herz sickerte, dann war er verdammt, wirklich verdammt.
Vor ihm lag eine Schnapsbrennerei, ein langes, niedriges Gebäude, das in eine grob aus einer steilen Bergflanke gehauenen Nische gebaut worden war. Die Fenster waren dunkel, wie leere Augenhöhlen. Etliche waren zerschmettert. Dahinter, in dem Betriebshof, wie Kell annahm, erhob sich der gedrungene alte Schornstein des Kesselhauses, dessen Zustand alles andere als gut war. Kell vermutete, dass die Brennerei schon lange nicht mehr benutzt wurde. Seine Augen glänzten. Ob sie noch ein paar Fässer übrig gelassen haben?, dachte er und lachte. Natürlich nicht. So etwas würde nur ein Verrückter tun.
Kell trat zur Tür und stieß sie auf. Er schob die halbleere Whiskyflasche in die tiefe Tasche seiner Jacke, nahm Ilanna in beide Hände und trat ein.
Im Innern der Brennerei war es dämmrig, aber durch das löchrige Dach fiel ein wenig Sternenlicht ins Innere. Es war ein kaltes, silbernes Licht, das die Schatten betonte, ohne ihnen wirklich Form zu geben oder ihnen Festigkeit zu verleihen. Kell kniff die Augen zusammen, die sich langsam auf die Dunkelheit einstellten, und dann lächelte er. Er war im Destillierraum, und als er weiterging, fiel ihm auf, dass der Boden der Brennerei sich unter ihm absenkte. Es war ein zweistöckiger Raum, obwohl die Brennerei nach außen hin einstöckig wirkte. Offenbar war sie tief in eine Höhle gebaut. Kell blieb stehen. Seine Stiefel kratzten über den Boden. Er spähte von der Galerie hinunter, auf der er stand. Unter sich sah er die großen, festen Deckel der runden Destillierkessel. Sein Blick glitt über die Kessel, als er sie zählte. Es waren sechs im Untergeschoss und sechs oben, umringt von eisernen Rahmen und Emporen aus Holz. Kell legte die Hand auf das Geländer, das unter seinen kräftigen Fingern zerbrach. Er knurrte.
»Was für eine Verschwendung! Ein so schönes Gebäude einfach verrotten zu lassen!«
Er ging zwischen den Destillierkesseln hindurch und blieb misstrauisch neben einem Geländer stehen, von dem aus man das untere Stockwerk der Brennerei überblicken konnte. Der Weg hinab führte über zwei eiserne Treppen. Er betrachtete die Destillierkolben und Brennapparate mit ihren merkwürdigen Kupferformen, die aussahen, als wären sie halb geschmolzen. Das Metall schien zum Boden zu fließen wie geschmolzenes Kerzenwachs, das unterwegs fest geworden war. Sie sehen aus wie Knoblauchknollen, dachte er und trank noch einen Schluck. Er grunzte, als ihm die Ironie der Situation erneut klar wurde. Der einzige, verdammte Whisky an diesem ganzen Ort war die billige, eklige Brühe, die er in seinen Händen hielt.
»Verdammt. Was würde ich nicht für einen guten Schluck Malt geben.«
Die Welt draußen schien in Dunkelheit zu ertrinken. Wolken schoben sich vor die Sterne und den Mond. Kell kniff die Augen zusammen, denn obwohl er ein unglaublich scharfes Sehvermögen besaß, setzte das Alter ihm zu, und seine Sehkraft war längst nicht mehr so gut wie früher.
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