Kells Rache: Roman (German Edition)
Ding ab, dachte sie, und Erinnerungen an Blut zuckten ihr durch den Kopf. Sie wusste, dass sie nicht stark genug war, um es mit diesem Mann aufzunehmen, diesem entflohenen Sträfling, diesem Mörder. Aber sie würde ihn für seine Tat leiden lassen, das wusste sie ebenfalls; er würde sich wünschen, dass er sie niemals getroffen hätte.
Styx kniete sich neben ihr auf den Boden, und Nienna zuckte zusammen. Aber sie zeigt ihm weiter Furcht, übertrieb sie sogar, ebenso wie ihre Schwäche. Das würde ihn selbstsicher machen, überheblich, und dann würde sie zuschlagen, wie eine Viper. Styx kroch noch dichter zu ihr hin, das Messer ausgestreckt, und sie konnte erkennen, wie er von seiner Lust überwältigt wurde. Sie hatte diese Miene schon gesehen, auf den Gesichtern von Studenten, bei ihrer ersten Begegnung mit einer Frau. Sie verloren jegliche Kontrolle, sie verloren ihre Intelligenz. Bei den Knochenhallen, sie verloren alles, was sie anfänglich vielleicht attraktiv gemacht haben mochte!
Nienna rührte sich nicht, lag da wie eine verängstigte Maus.
Styx’ Gestank überwältigte sie, noch bevor er überhaupt Hand an sie legte; er stank nach Schweiß, nach Waffenöl, nach Exkrementen, nach faulen Zähnen, ranzigem Atem und nach dem Blutöl, das seine Lippen von innen heraus verfärbte wie eine parasitäre Krankheit.
Er keuchte und ließ das Messer sinken. Die Augen hatte er halb geschlossen, als er sich ihr lüstern, mit gespitzten Lippen näherte. Nienna versetzte ihm einen rechten Haken, so wie ihr Großvater es ihr gezeigt hatte. Sie legte ihr ganzes Gewicht in den Hieb, schlug aus der Schulter, und vereinte in diesem einen Schlag alle Kraft, allen Hass und alle Wut und Furcht. Die Wucht des Schlags stieß Styx auf die Hacken zurück. Er riss die Augen auf und … lachte sie aus.
Nienna klappte die Kinnlade herunter.
Styx hob das Messer. »Dafür schneide ich dich in Stücke, du Miststück.«
N ienna spürte, wie ihr vor Angst die Pisse über die Ober schenkel lief. Sie war verloren, war so gut wie tot, schlimmer noch – sie war diesem schrecklichen Kerl vollkommen ausgeliefert, wie eine Sklavin.
Plötzlich tauchte etwas aus dem Nichts auf, ein Schemen, ein armdickes Stück Holz, das gegen Styx’ Schädel krachte. Blut und Speichel flogen aus seinem Mund, gefolgt von einem Zahn. Nienna sah zu, wie er langsam zur Seite kippte. Sein Körper wabbelte schlaff wie Gelatine. Schließlich landete er auf dem Boden, bewusstlos. Er zuckte noch einmal und rührte sich dann nicht mehr.
Aus der Dunkelheit tauchte Myriam auf. Sie stellte sich neben Styx. Ihr Gesicht war wutverzerrt. Erneut schlug sie mit dem Ast zu und traf Styx’ Schädel so hart, dass das Holzstück in ihren Händen in drei Teile zerbrach, die auf dem Waldboden landeten.
N ienna setzte sich auf, umklammerte die gefrorenen Wur zeln und bekam kein Wort heraus.
»Komm her, Kleine!«, befahl Myriam.
Nienna gehorchte. Sie rappelte sich hastig auf, blickte dann auf Styx hinunter, als sie stand. Blut lief ihm aus dem Ohr. Seine Lippen zitterten und waren blau angelaufen. Nienna sah zu Myriam hoch, die ihr beschützend eine Hand auf die Schulter legte.
»Hast du ihn getötet?«
»Ich hoffe es.«
»Du könntest ihn sicherheitshalber erdolchen.«
Myriam drehte Nienna an den Schultern herum, beugte sich vor und starrte ihr in die Augen. »Kleine, das hier ist nicht der richtige Ort, um einen bewusstlosen Mann zu ermorden. Ich habe … ich habe schreckliche Dinge verbrochen. In meiner Vergangenheit. So schreckliche Dinge, dass du sie niemals würdest verstehen können. Trotzdem, auch wenn du das möglicherweise nicht glauben kannst, steckt da immer noch ein wenig Stolz in mir. Styx hat heute Nacht etwas sehr Schlimmes gemacht. Und ich habe ihm eine Warnung erteilt, eine allerletzte Warnung. Sollte er trotzdem weitermachen, werde ich ihn töten. So einfach ist das. Entweder gehorcht er meinen Regeln, oder er wird Madenfutter.«
Sie richtete sich wieder auf. Nienna sah sie an, sagte jedoch nichts. Dann legte sie den Kopf auf die Seite. »Hast du Schmerzen?«
»Was?«, fuhr Myriam sie an, während sie den Blick durch den dunklen Wald schweifen ließ.
»Du siehst aus, als hättest du Schmerzen. Man sieht es in deinem Gesicht, in deinen Augen. Die ganze Zeit. Ich … ich verstehe es nicht.«
»Ja«, fauchte Myriam und kniff die Augen zusammen. »Ich habe ständig Schmerzen. Die Götter haben mich offenbar zu ihrem Spielzeug auserkoren. Sie haben mir
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