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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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abgehen. Ihr Wohnmobil war Ausdruck dieser Erwartung. Sie hatte es zu einer fahrbaren Überlebenseinrichtung umbauen lassen, mit Schutzblechen, die man vor Fensterscheiben und Reifen legen konnte, verstärktem Sicherheitstank und eingebautem Weltempfänger. In abgedichteten Einbaufächern lagen Vorräte für vier Wochen bereit und große Wasservorräte, die sie alle vier Tage erneuerte. An mehreren geheimen Stellen waren Rollen mit echten Goldmünzen versteckt; auch wenn sie sich nichts aus materiellem Besitz machte, war sie sich doch darüber im Klaren, was er in kritischen Situationen bewirken konnte.
    Trotz alledem wäre es ein aussichtsloses Unterfangen gewesen ohne ihre seherischen Fähigkeiten, die es ihr erlauben würden, zur richtigen Zeit an den richtigen Orten zu sein, um die Weltenwende heil zu überstehen. »Als im vierzehnten Jahrhundert die Pest ausbrach und Europa zur Hälfte entvölkerte«, flüsterte ihre Stimme geisterhaft in die Nacht der leeren Straßen, in denen ein paar verirrte Schneeflocken trieben, »konnte man überleben, wenn man in Mailand oder Liège war. Dorthin kam die Krankheit nicht. Wer das wusste, überlebte.«
    »Und diesmal?«, fragte Thilo leise.
    »Wir wissen nicht, was kommen wird. Aber etwas wird kommen, und bald. Im Schwarzwald gibt es Täler, wo man sicher sein wird, und südlich der Donau werden einige Stellen verschont bleiben. Dort gehen wir hin, wenn es so weit ist.«
    Als sie angekommen waren – Emma parkte wie immer ums Eck, um vom Haus der Matteks aus nicht gesehen zu werden -, fragte Thilo noch: »Nimmst du mich mit?«
    Sie fuhr ihm über das Haar und lächelte schmerzlich. »Ja, sicher. Ich hol’ dich ab, wenn es so weit ist. Aber du musst bereit sein, denn warten werde ich nicht können.«
    Thilo nickte. »Ich werde bereit sein.«
    Als er aussteigen wollte, fiel ihr noch etwas ein. Aus einem Schubfach holte sie eine Salatschüssel heraus, die er vor etlicher Zeit einmal mitgebracht hatte. »Hier«, sagte sie und küsste ihn zum Abschied. »Bring sie zurück.«
    »Ach was«, meinte Thilo. »Behalt sie. Die vermisst bei uns niemand.«
    »Nein«, beharrte sie. »Die alten Dinge müssen geklärt sein, damit das Neue kommen kann. Bring sie zurück.«
    Er wartete, die Salatschüssel im Arm, und sah ihr nach, bis sie davongefahren war. Dann schlenderte er die restlichen Meter bis zur Haustür, die er möglichst unhörbar aufzuschließen sich bemühte. In diesem Haus litten bisweilen die verschiedensten Bewohner aus den verschiedensten Gründen an Schlafstörungen, und er wollte gerade keinem davon begegnen.
    Aber in der Küche brannte Licht. Schmal und hell fiel ein Streifen durch die angelehnte Tür auf den dunklen Flur. Mist. Einen Moment überlegte er, ob er einfach die Treppe hinaufschleichen sollte, aber dann beschloss er, sich der Herausforderung zu stellen. Er öffnete die Küchentür.
    Ich träume, dachte er im nächsten Moment. Ich liege noch bei Sybilla im Bett und träume das alles. Weder sein Vater noch Nora noch Sabrina saßen am Küchentisch, sondern ein bizarres Wesen, das einem Comicstrip entsprungen zu sein schien; eine Kreuzung aus einem magersüchtigen Teenager und einem Delphin. Ich habe die ganze Rückfahrt geträumt, und das hier träume ich auch. Und dieses Wesen sah ihn aus großen schwarzen Augen an, hob lässig die Hand und sagte: »Guten Abend, Mister.«
    Thilos Unterkiefer klappte herab.
    Die Schüssel entglitt seinen Händen und zerschellte mit einem markerschütternden Knall auf den Fliesen.
    »Oh«, sagte das Wesen am Küchentisch. »Hoffentlich Allianz versichert.«

8
    Sabrina konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt alle vier an einem ganz gewöhnlichen Samstagmorgen zusammen am Frühstückstisch gesessen hatten. Dieses Jahr jedenfalls noch nicht.
    »Wir müssen reden«, sagte Wolfgang Mattek in seinem besten Familienvater-Ton.
    »Ja«, sagte Thilo.
    »Allerdings«, nickte Nora.
    »Über verschiedene Dinge«, fuhr der Familienvater ernst fort.
    »Eine Menge Dinge«, bekräftigte seine Frau.
    »Vor allem mal über ein ganz bestimmtes Ding«, forderte Thilo.
    Sabrina warf ihren Löffel klirrend in die Müslischale.
    »Kelwitt ist kein Ding! Ich glaub’, ich spinne! Jetzt bringt mein eigener Bruder schon solche nazimäßigen Sprüche, das halt’ ich ja im Kopf nicht aus! Und alles bloß, weil du zu blöd bist, eine Salatschüssel richtig festzuhalten …«
    »Schluss!«, fuhr Mattek dazwischen. »Ich wünsche jetzt keinen Streit.

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