Kelwitts Stern
Zweifeln, paranoiden Ängsten und irrealen Hoffnungen. Es gelang ihm, sie zur Eheberatung zu schleppen, und eine Weile sah es so aus, als ob es mit Hilfe der Therapeutin gelingen würde, das Ruder herumzureißen. Doch dann kam Tschernobyl, fast genau an dem Tag, für den der Prediger eine große Katastrophe vorhergesagt hatte, den ersten apokalyptischen Reiter, das erste Fanal des nahenden Endes. Nora verließ ihn und die Kinder und zog mit den anderen auf einen abgelegenen Berg in der rätoromanischen Schweiz, um zu beten und zu fasten, um das Armageddon zu überleben und die Hoffnung der besseren Welt zu werden, die danach kommen sollte.
Sie hatte niemals darüber gesprochen, was sich auf dem Berg abgespielt hatte. Auch die Untersuchungen der Polizei später hatten kein vollständiges Bild ergeben. Die meisten waren wieder heruntergekommen, halb verhungert, schmutzig und verstört, nachdem der angekündigte Weltuntergang nicht stattgefunden hatte. Nur den Prediger selbst und fünf seiner engsten Getreuen hatte man tot in einem Zelt auf dem Berg gefunden, zusammen mit einem düsteren Brief, der besagte, dass es dieses Opfer gewesen sei, das die Welt noch einmal gerettet habe, dass aber der Tag kommen würde, an dem weitere Opfer notwendig werden würden …
Heute Abend hatte sich ihre Umarmung fast genauso angefühlt wie damals in der Schweiz.
Wahrscheinlich war es die Anwesenheit Kelwitts, die sie nicht verkraftete. Es war nun lange Jahre gut gegangen, in letzter Zeit war sie sogar von Albträumen verschont geblieben, und sie hatten ein friedliches, im Großen und Ganzen glückliches Leben geführt. Das Auftauchen des Außerirdischen musste etwas in ihr ausgelöst haben, und Wolfgang Mattek fragte sich, was.
Kelwitt beobachtete an diesem Abend mit einiger Erleichterung, dass F’tehr wie jeden Tag von draußen ins Nest zurückkehrte und Unsremuutr begrüßte, indem er seine Nahrungs- und Sprechöffnung – bei den Erdbewohnern waren diese beiden Funktionen seltsamerweise in einem Organ zusammengefasst, obgleich Kelwitt sich nicht recht vorstellen konnte, was das eine eigentlich mit dem anderen zu tun hatte – auf die entsprechende Öffnung Unsremuutrs drückte, was Unsremuutr mit einer Umschlingbewegung der oberen Extremitäten beantwortete.
So waren seine Befürchtungen also unbegründet gewesen. Die Erdbewohner verspeisten zwar bisweilen andere Lebewesen, aber immer nur kleine, die anscheinend eigens zu diesem Zweck gezüchtet wurden, und niemals Artgenossen.
»Ich würde gern das Nest für kurze Zeit verlassen«, vertraute er sich S’briina an. »Mich auf dem Planeten etwas umsehen.«
S’briina machte Gesten mit der Kopfvorderseite. Die Erdbewohner hatten flache Kopfvorderseiten, die so beweglich waren, dass sie damit Gesten machen konnten. Das sah für jombuuranische Augen sehr bizarr aus, aber mittlerweile hatte Kelwitt sich daran gewöhnt, wenn er auch noch nicht deuten konnte, was die Gesichtsgesten bedeuteten. »Ich weiß nicht«, meinte S’briina. »Wir wissen nicht, wer hinter dir her ist. Was ist, wenn dich jemand sieht?«
»Vielleicht kann ich im Schutz der Nacht gehen«, schlug Kelwitt vor. »Und vielleicht kann ich Stücke eurer Kleidung dabei tragen.«
»Vater will das nicht«, sagte S’briina. F’tehr war offenbar so etwas wie der Schwarmälteste. Wieso er dann das Nest jeden Tag so lange Zeit verließ, verstand Kelwitt allerdings nicht, obwohl Tiilo versucht hatte, es ihm zu erklären.
»Nur ganz kurz«, bat Kelwitt. »Du könntest mich begleiten, zur Sicherheit. Nur eine Viertelperiode.«
S’briina zögerte und sagte dann: »Gut, meinetwegen. Aber das bleibt unter uns, verstanden?«
Kelwitt verstand nicht ganz, was S’briina mit »unter uns« meinte.
»Redewendung mit unbekannter Bedeutung«, kommentierte auch Tik. Also zuckte Kelwitt die Schultern und sagte vorsichtshalber: »Ja.«
S’briina bedeutete ihm, ihn in Tiilos Nesthöhle zu begleiten. Dort hingen in einem Aufbewahrungsfach zahlreiche aus Stoff gefertigte Verhüllungen für alle Körperteile eines Erdbewohners. S’briina nahm ein paar heraus und hielt sie prüfend neben Kelwitt, reichte ihm schließlich ein Verhüllungsteil und sagte: »Zieh das an; das müsste passen.«
Das Kleidungsstück war schwierig anzulegen, und ohne S’briinas Hilfe hätte er sich nicht zurechtgefunden. Ihm wurde sofort heiß darunter. Außerdem saugte es die Feuchte ab, und seine Haut begann zu jucken.
»Ihr Erdbewohner tragt ständig
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