Kelwitts Stern
… So wenig Hoffnung.«
Thilo sah ihn an und wusste, dass er ihm eines Tages von Kelwitt erzählen würde.
Als Wolfgang Mattek an diesem Montagabend nach Hause kam, war er wie gerädert. Der Stau auf der Rückfahrt hatte ihm vollends den Rest gegeben. Den Ausfall einer der Verpackungsmaschinen heute Nachmittag konnten sie gerade ungefähr so nötig brauchen wie ein Loch im Kopf. Da musste er morgen noch ein paar Telefonate führen, ein paar Leute anschreien und mit Anwälten drohen und so weiter. Ihm am Telefon frech zu sagen, die Leute der Servicefirma seien schon alle im Weihnachtsurlaub! Was stellten die sich eigentlich unter einem Wartungsvertrag vor? Wofür zahlte er jeden Monat diese Menge Geld? Und die Lieferung aus Taiwan, die in Bremen im Zoll feststeckte, hatten sie auch heute nicht freibekommen; wie es aussah, würde er morgen jemanden hinschicken müssen. Wenn er nicht am Ende selber fahren musste, aber das wollte er, wenn irgend möglich, vermeiden. Denn er machte sich Sorgen um Nora. Nein, das war das falsche Wort. Angst, er hatte Angst um sie. Regelrecht Angst, und die hatte er oft. Meistens unbegründet, weil das, was ihn an ihr beunruhigte, einfach nur eine schlechte Laune war, oder sie ihre Tage bekam. Aber die Angst war immer da, begleitete ihn und bedrückte ihn, so wie die Erinnerung, dass ein schmerzhafter Zahnarztbesuch bevorsteht, alle Freuden des Augenblicks dunkel überschatten kann. Die Angst, dass es wieder passieren könnte.
Die Kinder waren noch zu klein gewesen, um eine Erinnerung daran zu haben. Und völlig aus heiterem Himmel war es nicht passiert, jedenfalls nicht so, dass man hätte sagen können, dass es nicht zu ihr passe. Es hatte zu ihr gepasst.
Schon wie sie sich kennengelernt hatten, hatte dazu gepasst. Er hatte damals in der Bretagne Urlaub gemacht. Den ersten Urlaub, seit er fünf Jahre zuvor die Firma von Onkel Werner übernommen hatte. Aus irgendwelchen Gründen hatte er sich die Bretagne in den Kopf gesetzt gehabt, obwohl es dort im März alles andere als gemütlich war. Er hatte einen Stapel Bücher dabeigehabt, ungelesene Erwerbungen aus arbeitsamen Jahren, und ein paar dicke Wollpullover. Aber dann war das Tankerunglück passiert. ›Amoco Cadiz‹ hatte das Schiff geheißen, das vor der französischen Küste auf Grund gelaufen war, und in den darauffolgenden Tagen war er fassungslos am Strand entlanggewandert und hatte zugesehen, wie Sand, Felsen und Tiere unaufhaltsam von einer schwarzen, zähen Brühe verschlungen wurden, die ein düsteres Meer gleichgültig anspülte. Reporter waren in erschreckenden Scharen aufgetaucht, und er hatte den Rest seines Urlaubs als freiwilliger Helfer mit kräftezehrender Arbeit verbracht: hilflose Seevögel aufsammeln und ihr verklebtes Gefieder reinigen, öligen, verklumpten Sand in große Kübel schaufeln, bei widrigstem Wetter und bis in die Nacht. Dabei hatte er Nora kennengelernt, eine achtundzwanzigjährige Studentin der Literaturwissenschaften aus Tübingen, eigens angereist als freiwillige Helferin, getrieben von einem beinahe wütenden Entschluss, die Welt nicht verloren geben zu wollen.
Im Jahr darauf hatten sie geheiratet, auf seinen Wunsch hin. An dem wütenden Entschluss änderte das nichts. Mit der einjährigen Sabrina im Buggy marschierte Nora Mattek gegen Pershing-Raketen und den NATO-Doppelbeschluss, wenige Wochen nach der Geburt Thilos blockierte sie schon wieder Kernkraftwerke, kettete sich an vor Gorleben und Mutlangen, schrieb für alternative Zeitungen und kaufte biologisch-dynamisches Gemüse. Die ersten Kontakte Noras zu einer Gruppe, die sich um einen ehemaligen Pfarrer gebildet hatte, der seinen Jüngern den nahen Weltuntergang predigte, bekam Wolfgang Mattek überhaupt nicht mit. Irgendwann waren dann nur noch die Prophezeiungen des Nostradamus Gesprächsthema, die Visionen irgendwelcher Waldpropheten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Geschichte von Päpsten und Kardinälen, das dritte Geheimnis von Fatima, und natürlich die Auslegungen der Apokalypse und des Buches Daniel. Wolfgang hielt dagegen, versuchte zu mäßigen, regte sich auf, stritt, schrie, hielt sie einmal sogar mit Gewalt zurück, zu ihrer Gruppe zu gehen. Natürlich stand nicht alles zum Besten, mit der Umwelt nicht, mit der Politik nicht, es gab zu viele Waffen und zu viel Gift, das wusste Wolfgang auch, aber der Prediger vermischte Wahres mit wilden Behauptungen, zog Nora hinein in einen unentrinnbar scheinenden Strudel aus
Weitere Kostenlose Bücher