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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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abrupt, mitten zwischen zwei Schlägen der Trommelstöcke.
    Da spürte sie eine Hand an ihrem Knöchel. Sie zuckte zusammen, doch niemand hielt sie fest. Sie unterdrückte ihren Fluchtimpuls, als sie aus dem Dunkel Lucindas Stimme hörte. »Ich bin es.«
    Louise hockte sich hin und tastete mit der Hand. Luanda saß an einen verdorrten Baum gelehnt, der bei einem Sturm umgestürzt sein mußte. Louise fühlte das fiebrige und schweißfeuchte Gesicht der Kranken an ihrer Hand.
    Lucinda zog sie neben sich zu Boden. »Niemand hat mich gesehen. Alle glauben, ich sei so schwach, daß ich nicht aufstehen kann. Aber noch kann ich. Bald geht es nicht mehr. Aber ich wußte, daß du kommen würdest.«
    »Ich konnte nicht glauben, daß du so schnell krank werden würdest.«
    »Niemand glaubt, daß der Tod unmittelbar neben uns ist. Bei manchen geht es sehr schnell. Ich gehöre zu ihnen.«
    »Ich nehme dich mit, weg von hier, und sorge dafür, daß du Medizin bekommst.«
    »Es ist zu spät. Ich habe Henriks Geld. Es hilft nicht. Die Krankheit breitet sich in meinem Körper aus wie ein Brand in trockenem Gras. Ich bin bereit. Nur manchmal habe ich Angst, in der Dämmerung, an gewissen Tagen, wenn der Sonnenaufgang besonders schön ist und ich weiß, daß ich ihn bald nicht mehr erleben werde. Etwas in mir hat sich schon zur Ruhe gelegt. Ein Mensch stirbt schrittweise, wie wenn man an einem flachen Strand ins Wasser watet und das Wasser einem erst nach einigen Kilometern bis ans Kinn reicht. Ich dachte zuerst, ich würde zu Hause bleiben und bei meiner Mutter sterben. Aber ich wollte nicht unnütz sterben, wollte nicht, daß mein Leben spurlos vorübergeht. Da dachte ich an dich und wie du in allem, was er getan oder zu tun versucht hat, nach seinem Geist gesucht hast. Ich bin hergekommen, um zu sehen, ob es so ist, wie Henrik glaubte: daß es hinter dem guten Willen eine andere Wirklichkeit gibt, daß sich hinter den jungen Idealisten Menschen mit schwarzen Flügeln verbergen, die die Sterbenden für ihre eigenen Zwecke benutzen.«
    »Was hast du gesehen?«
    Lucindas schwache Stimme zitterte. »Ungeheuerliches. Aber laß mich meine ganze Geschichte erzählen. Wie ich nach Xai-Xai gekommen bin, bedeutet nichts, ob jemand mich auf einer Schubkarre hergebracht hat oder auf der Ladefläche eines Lastwagens, ist unwesentlich. Ich habe viele Freunde, ich bin nie allein. Sie ließen mich im Sand und Schmutz vor den  Häusern in Christian Holloways Dorf zurück. Ich lag dort und wartete auf die Morgendämmerung. Der erste, der mich sah, war ein alter Mann mit weißem Haar. Dann kamen die anderen, alle mit Stiefeln an den Füßen, großen Schürzen und Gummihandschuhen. Es waren weiße Südafrikaner, der eine oder andere war vielleicht Mulatte. Sie fragten mich, ob ich Aids hätte, woher ich käme, es war wie ein Verhör. Schließlich beschlossen sie, mich aufzunehmen. Ich wurde zuerst in ein anderes Haus gelegt, aber als es Nacht war, ging ich dahin, wo du mich gefunden hast.«
    »Wie konntest du bei mir anrufen?«
    »Ich habe noch immer mein Telefon. Der Mann, der mich hergefahren hat, lädt jeden zweiten Tag die Batterie auf und gibt sie mir heimlich nachts. Ich rufe meine Mutter an und lausche ihren entsetzten Rufen, mit denen sie den Tod auf Abstand halten will. Ich versuche sie zu trösten, obwohl ich weiß, daß das nicht möglich ist.«
    Lucinda begann zu husten, hart und lange. Louise veränderte ihre Sitzposition und stieß an einen kleinen Kassettenrecorder neben dem Baum. Hör auf die timbila in der Dunkelheit. Es war kein Schatten, der gespielt hatte. Die Töne waren von einer Kassette gekommen. Lucinda hörte auf zu husten. Sie keuchte vor Anstrengung. Ich kann sie hier nicht lassen, dachte Louise. Henrik hätte sie nie verlassen. Es muß etwas  geben, was ihre Qualen lindert, vielleicht gibt es eine Rettung .
    Lucinda griff nach ihrer Hand, wie um Halt zu suchen. Aber sie stand nicht auf, sie fuhr fort zu sprechen. »Ich lausche, wenn ich dort auf dem Fußboden liege. Nicht den Kranken, sondern den Stimmen der Gesunden, die in den Räumen sind. Nachts, wenn die meisten der jungen weißen Engel schlafen und nur die Nachtwachen wach sind, wird die Unterwelt lebendig. Es gibt Räume unter dem Fußboden, ausgehoben aus der Erde. Dort ist das Ungeheuerliche.«
    Ihre Stimme war so schwach, daß Louise sich vorbeugen mußte, um zu verstehen. Lucinda bekam einen neuen Hustenanfall, der sie zu ersticken drohte. Es klang wie ein

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