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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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nur den Tod. Wie an den Stränden von Lampedusa im Mittelmeer, wo die toten Flüchtlinge an Land treiben und nie das Leben finden, von dem sie geträumt haben.
    Sie wartete reglos, wahrend ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnten. Sie lauschte dem Chor der Atemzüge. Einige waren kurz, heftig, angestrengt, andere so leicht, daß sie kaum vernehmbar waren. Es gab Röcheln und Stöhnen und zischendes Schreien, das sich zum Flüstern formte. Sie blickte sich in dem übervollen Raum um, suchte nach Lucinda, ohne sie zu entdecken. Sie zog ein Taschentuch hervor und hielt es vor den Mund. Lange würde sie ihre Übelkeit nicht unterdrücken können. Sie bewegte sich durch den Raum, setzte die Füße behutsam auf, um nicht auf ein Bein oder einen ausgestreckten Arm zu treten. Menschliche Wurzeln, dachte sie, die drohen, mich zu umschlingen. Sie schob den Gedanken von sich, er war sinnlos, sie brauchte die Wirklichkeit nicht in Gleichnisse umzuwandeln. Sie war unbegreiflich genug. Sie suchte weiter.
    In einer Ecke des Raums fand sie Lucinda. Sie lag auf einer Matte hinter einer in den Raum vorspringenden Wand, an einem der Pfeiler, auf denen die Decke auflag. Louise suchte ihren Blick. Lucinda war wirklich sehr krank. Sie lag fast nackt, und ihr Brustkorb bewegte sich in heftigen, kurzen Atemzügen. Louise erkannte, daß Lucinda den Platz mit Bedacht gewählt hatte. Der Pfeiler schuf einen toten Winkel. Niemand würde ihr Gesicht sehen, wenn Louise vor ihr stand. Lucinda zeigte mit einem Finger auf den Fußboden. Dort lag eine Streichholzschachtel. Louise ließ ihr Taschentuch fallen, bückte sich danach und hob gleichzeitig die Schachtel auf. Lucinda schüttelte fast unmerklich den Kopf. Louise wandte sich um und verließ das Haus, als hätte sie die Person, die sie suchte, nicht gefunden.
    Sie zuckte zusammen, als sie ins grelle Licht hinaustrat, und machte sich auf der staubigen Straße auf den Rückweg. Als sie außer Sichtweite der Häuser gekommen war, rief sie Warren an. Zehn Minuten später war er da. Sie sagte, es tue ihr leid, daß sie nicht vorhergesehen habe, wie kurz ihr Besuch sein würde, aber sie müsse vielleicht wieder ins Dorf zurück, möglicherweise noch heute.
    Am Hotel weigerte er sich weiterhin, Geld anzunehmen. Wenn sie ihn brauche, solle sie nur anrufen. Jetzt würde er im Schatten seines Lastwagens schlafen und dann zum Meer gehen und baden. »Ich schwimme mit Walen und Delphinen. Dann vergesse ich, daß ich Mensch bin.« »Wollen Sie das vergessen?«
    »Ich glaube, daß alle irgendwann wünschen, nicht nur mit Armen und Beinen, sondern auch mit Flossen ausgerüstet zu sein.«
    Sie ging in ihr Zimmer und wusch sich Gesicht und Hände unter dem Wasserhahn, der plötzlich zu alter Energie zurückgefunden hatte und einen kräftigen Strahl ausstieß. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und öffnete die Streichholzschachtel. In sehr kleiner Schrift hatte Lucinda auf einem Stück Papier, das vom Rand einer Zeitung abgerissen war, eine Nachricht gegeben. Hör in der Dunkelheit auf die timbila. Mehr nicht.
    Hör in der Dunkelheit auf die timbila.
    Sie wartete in der Dämmerung, nachdem es ihr gelungen war, der Klimaanlage mit einem Schuh Leben einzuhämmern.
    Warren rief an und weckte sie aus ihrem Schlummer. Brauchte sie ihn jetzt? Oder konnte er nach Xai-Xai hineinfahren zu seiner schwangeren Frau, die jetzt täglich ihr Kind erwartete? Sie sagte ihm, er solle fahren.
    Bei ihrer Abreise hatte sie in Arlanda einen Badeanzug gekauft. Sie schämte sich dessen ein bißchen, weil ihr eigentliches Anliegen war, einen jungen Menschen zu treffen, der im Sterben lag. Mehrmals versuchte sie, sich selbst zu überreden, zum Strand hinunterzugehen. Aber sie vermochte es nicht. Sie mußte ihre Kräfte sparen, obwohl sie nicht wußte, was sie erwartete. Lucinda mit ihrem keuchenden Atem hatte sie in Empörung und in Angst zugleich versetzt.
    In der starken Hitze gärten überall Tod und Untergang. Aber sie wußte, daß der Gedanke unscharf war, es gab auch nichts, was so voller Lebenskraft war wie die starke Sonne. Henrik hatte wütend dagegen protestiert, daß man Afrika als den Kontinent des Todes bezeichnete. Er hätte gesagt, unsere eigene Unfähigkeit, die Wahrheit zu suchen, ist schuld daran, daß wir »fast alles darüber wissen, wie die Afrikaner sterben, aber kaum etwas darüber, wie sie leben«. Wer hatte das gesagt? Es fiel ihr nicht ein. Doch die Worte hatten in einem der Dokumente gestanden, die

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