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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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ungewöhnlich.«
    »Woher kam ihre Großmutter? Hat sie sie noch kennengelernt?«
    »Ich weiß es nicht. Aber sie sprach von einem Meer und einer Insel, ein Küstenstrich irgendwo. Sie ahnte eine dunkle Ursache dafür, daß ihre Großmutter Schweden verlassen hatte.«
    »Gibt es keine Verwandten mehr in Amerika?«
    »Heidi hatte keine Papiere, keine Adressen. Sie sagte, sie sei lebend dem Krieg entronnen. Aber das war auch alles. Sie besaß nichts. Alle Erinnerungen waren ausgelöscht. Ihre Vergangenheit war zerbombt und in den Feuerstürmen verschwunden.«
    Sie waren zum Forstweg zurückgekommen.
    »Wirst du Henriks Gesicht skulptieren?«
    Beide brachen in Tränen aus. Die Galerie schloß abrupt ihre Pforten. Sie setzten sich in den Wagen.
    Als er den Zündschlüssel umdrehen wollte, legte sie die Hand auf seinen Arm. »Was ist nur passiert? Er kann sich nicht umgebracht haben.«
    »Er kann krank gewesen sein. Er ist viel in gefährlichen Gegenden unterwegs gewesen.«
    »Auch das glaube ich nicht. Ich weiß, daß irgend etwas nicht stimmt.«
    »Was sollte das gewesen sein?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie fuhren durch den Wald zurück, der Dunst hatte sich aufgelöst, der Herbsttag war klar, die Luft leicht. Sie protestierte nicht, als er sich mit einem nahezu verbitterten Ehrgeiz, nicht aufzugeben, bis er Aron ausfindig gemacht hatte, ans Telefon setzte.
    Er gleicht seinen alten Jagdhunden, dachte sie. Den Elchhunden, die kamen und gingen, in den Wäldern jagten, alt wurden und starben. Jetzt war er selbst ein Hund geworden. Sein Kinn und seine Wangen waren von zottigem Fell bedeckt.
    Es dauerte vierundzwanzig Stunden mit verwirrten Berechnungen von Zeitunterschieden und Öffnungszeiten bei der schwedischen Botschaft in Canberra und unzähligen Versuchen, einen Verantwortlichen bei der Schwedisch-Australischen Vereinigung zu finden, die eine unbegreiflich große Mitgliederzahl aufwies. Aber nirgendwo war ein Aron Cantor bekannt. Er hatte sich nicht bei der Botschaft gemeldet und hatte keinen Kontakt zur Schwedischen Vereinigung. Nicht einmal ein alter Gärtner namens Karl-Hakan Wester in Perth, der angeblich alle Schweden in Australien kannte, konnte Auskunft geben.
    Sie sprachen darüber, ihn suchen zu lassen, eine Annonce aufzugeben. Aber Louise sagte, Aron sei so scheu, daß er die Farbe wechseln könne. Er konnte Verfolger dadurch verwirren, daß er zu seinem eigenen Schatten wurde.
    Sie würden Aron nicht finden. War es das, was sie im Innersten wünschte? Wollte sie ihn des Rechts berauben, seinen eigenen Sohn ans Grab zu begleiten? Als Rache für alle Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte?
    Artur fragte sie unumwunden, und sie sagte wahrheitsgemäß, daß sie es nicht wisse.
    Die meiste Zeit während dieser Tage im September weinte sie. Artur saß stumm am Küchentisch. Er konnte sie nicht trösten, Schweigen war alles, was er ihr bieten konnte. Aber es war ein kaltes Schweigen, das ihre Verzweiflung noch vertiefte.
    Eines Nachts kam sie in sein Zimmer und kroch zu ihm ins Bett, wie sie es in den Jahren nach Heidis einsamem Tod auf dem See getan hatte. Sie lag vollkommen still, mit dem Kopf an seinem Arm. Keiner von beiden schlief, keiner sprach. Der Mangel an Schlaf war wie ein Warten darauf, daß das Warten ein Ende nahm.
    Doch in der Morgendämmerung hielt Louise die Untätigkeit nicht länger aus. Auch wenn sie noch nicht begreifen konnte, so mußte sie versuchen zu verstehen, welche dunklen Kräfte ihr das einzige Kind genommen hatten.
    Sie waren früh aufgestanden und saßen am Küchentisch. Vor dem Fenster fiel ein sanfter Herbstregen. Die Vogelbeeren leuchteten. Sie bat darum, sein Auto nehmen zu dürfen, weil sie schon an diesem Morgen nach Stockholm zurückkehren wollte. Er war besorgt, aber sie beruhigte ihn. Sie würde nicht schnell fahren, sie würde auch nicht über den Rand einer Schlucht fahren. Jetzt sollte keiner mehr sterben. Aber sie mußte in Henriks Wohnung. Sie war davon überzeugt, daß er eine Spur hinterlassen hatte. Es war kein Brief dagewesen. Aber Henrik schrieb keine Briefe, er hinterließ andere Zeichen, die nur sie deuten konnte.
    »Ich habe keine andere Möglichkeit«, sagte sie. »Ich muß es tun. Danach komme ich zurück.«
    Er zögerte, bevor er aussprach, was ausgesprochen werden mußte. Die Beerdigung?
    »Es muß hier sein. Wo sonst sollte er beerdigt werden? Aber es muß warten.«
    Eine Stunde später reiste sie ab. Der Wagen roch nach jahrelanger Plackerei, Jagd und

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