Kennedys Hirn
groben Kiefern, die dicht beieinanderstanden. Brüder, hatte er gedacht, Brüder oder Schwestern, die nicht zu trennen waren. Er hatte die Bäume immer wieder betrachtet, viele Jahre hatte er gezögert. Jede Skulptur befand sich bereits in den Stämmen, er mußte den Augenblick abwarten, in dem er anfing, das Unsichtbare zu sehen. Dann konnte er die Messer und die Meißel schärfen und arbeiten, das schon Existierende freilegen. Doch die drei groben Kiefern waren stumm gewesen. Manchmal glaubte er zu ahnen, was sich unter der Rinde verbarg. Aber er hatte gezögert, es war trotz allem nicht richtig, er mußte tiefer suchen. Dann hatte er eines Nachts von einsamen Hunden geträumt, und als er in den Wald zurückkam, hatte er eingesehen, daß es
Tiere waren, die in den Kiefern steckten, nicht richtig Hunde, sondern ein Zwischending zwischen Wolf und Hund, vielleicht auch ein Luchs. Er hatte angefangen zu skulptieren, es bestand kein Zweifel mehr, und jetzt waren da drei Tiere, Hunde und zugleich Katzen, die im Begriff zu sein schienen, die dicken Stämme hinaufzuklettern, als kletterten sie aus sich selbst heraus.
Sie hatte die Tiere noch nie gesehen. Er beobachtete sie, wie sie nach der Erzählung suchte. Seine Skulpturen waren keine Bilder, sondern Erzählungen, Stimmen, die flüsterten und riefen und forderten, daß sie zuhören sollte. Seine Galerie und ihre archäologischen Ausgrabungen hatten gemeinsame Wurzeln. Es waren verschwundene Stimmen, und sie war diejenige, die das Schweigen, das sie aussandten, deuten mußte.
»Das Schweigen hat die schönste Stimme«, hatte er einmal gesagt. Die Worte hatte sie nie vergessen.
»Haben sie Namen, deine Katzenhunde oder Hundekatzen?«
»Der einzige Name, mit dem ich zufrieden bin, ist deiner.«
Sie gingen weiter durch den Wald, die Pfade kreuzten sich, Vögel flogen auf und flatterten davon. Plötzlich, ohne daß es seine Absicht gewesen wäre, befanden sie sich in der Mulde, in der er Heidis Gesicht in einen Stamm gehauen hatte. Die Trauer, die er noch immer empfand, lag schwer auf ihm. Jedes Jahr meißelte er ihr Gesicht und seine Trauer aufs neue. Ihr Gesicht wurde immer spröder, immer flüchtiger. Die Trauer drang tief in den Stamm, wenn er den Meißel mit voller Kraft ebenso in sich selbst schlug wie in den Baum.
Louise strich mit den Fingerspitzen über das Gesicht ihrer Mutter. Heidi, Arturs Frau und Louises Mutter. Sie fuhr weiter mit der Hand über das feuchte Holz, an den Augenbrauen war ein Streifen Harz erstarrt, als hätte Heidi dort eine Narbe.
Louise wollte, daß er redete, das war ihm klar. So vieles über Heidi und ihren Tod war ungesagt geblieben. Sie waren in all den Jahren umeinander herumgeschlichen, und er hatte es nie über sich gebracht, zu sagen, was er wußte, oder zumindest etwas von dem anzusprechen, was er nicht wußte, aber glaubte.
Sie war vor siebenundvierzig Jahren gestorben. Louise war sechs Jahre alt, es war im Winter, und er war weit oben in den Wäldern an der Grenze zum Hochfjell beim Holzfällen gewesen. Was Heidi getrieben hatte, konnte man nicht wissen. Aber sie hatte sich nicht vorgestellt, auf dem Weg in den Tod zu sein, als sie die Nachbarin Rut bat, das Mädchen an diesem Abend bei sich schlafen zu lassen, während sie sich aufmachte, um das zu tun, was sie am allermeisten liebte: Schlittschuh zu laufen. Daß es neunzehn Grad unter Null war, machte ihr nichts aus, sie nahm den Tretschlitten und sagte Rut nicht einmal, daß sie zum Undertjärn wollte.
Was danach geschah, konnte man nur vermuten. Sie kam mit ihrem Tretschlitten zum See, schnürte sich die Schlittschuhe unter und begab sich auf das schwarze Eis. Es war fast Vollmond, sonst hätte sie in der Dunkelheit gar nicht fahren können. Aber irgendwo auf dem Eis stürzte sie und brach sich das Bein. Die sie fanden, konnten sehen, daß sie versucht hatte, sich an Land zurückzuschleppen, aber sie hatte es nicht geschafft. Als man sie zwei Tage später fand, lag sie in Embryonalhaltung zusammengekauert. Die scharfen Schlittschuhkufen sahen wie eigentümliche Klauen an ihren Füßen aus, und man hatte große Mühe, ihre Wange, die am Eis festgefroren war, zu lösen.
Es gab so viele Fragen. Hatte sie geschrien? Was hatte sie gerufen? Und wen? Hatte sie dort draußen zu Gott gerufen, als ihr klar wurde, daß sie erfrieren würde?
Niemanden traf eine Schuld, höchstens sie selbst, weil sie nicht gesagt hatte, daß sie zum Undertjärn wollte. So hatte man auf dem
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