Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
seinen Tod verursacht hat.«
    »Was sagen die Ärzte?«
    »Daß es keine einfache oder unmittelbare Erklärung gibt. Was nicht verwunderlich ist. Wenn ein junger, gesunder Mensch plötzlich stirbt, muß etwas Unerwartetes dahinterstecken. Wir werden es zu gegebener Zeit erfahren.«
    »Was?«
    Göran Vrede schüttelte den Kopf. »Ein kleines Detail hört auf zu funktionieren. Ein kleines Glied, das ausfällt, kann ebenso großen Schaden bewirken wie ein Dammbruch oder ein Vulkanausbruch. Die Ärzte suchen.«
    »Es muß etwas Unnatürliches geschehen sein.«
    »Warum glauben Sie das? Erklären Sie es mir.«
    Göran Vredes Stimme bekam einen anderen Ton.
    Louise nahm eine Spur von Ungeduld in seiner Frage wahr.
    »Ich kannte meinen Sohn. Er war ein glücklicher Mensch.«
    »Was ist ein glücklicher Mensch?«
    »Ich will nicht von Ihrem Vater reden. Ich rede von Henrik. Er ist nicht freiwillig gestorben.«
    »Aber niemand hat ihn getötet. Entweder ist er eines natürlichen Todes gestorben, oder er hat Selbstmord begangen. Unsere Pathologen sind gründliche Leute. In Kürze wissen wir mehr.«
    »Und dann?«
    »Was meinen Sie?«
    »Wenn sie keine Erklärung gefunden haben?« Schweigen.
    »Es tut mir leid, daß ich Ihnen im Augenblick nicht mehr helfen kann.«
    »Niemand kann mir helfen.«
    Louise erhob sich mit einer heftigen Bewegung. »Es gibt keine Erklärung. Es gibt kein fehlendes Glied. Henrik starb, weil jemand anders es wollte, nicht er selbst.«
    Göran Vrede brachte sie zum Ausgang. Sie trennten sich schweigend.
    Louise holte den Wagen und verließ Stockholm. Kurz vor Sala hielt sie auf einem Rastplatz, ließ die Rückenlehne herunter und schlief ein.
    Im Traum erschien ihr Vassilis. Er beteuerte, nichts mit Henriks Tod zu tun zu haben.
    Louise wachte auf und fuhr weiter nach Norden. Der Traum wollte ihr etwas mitteilen, dachte sie. Ich habe von Vassilis geträumt, aber eigentlich habe ich von mir selbst geträumt. Ich habe versucht, mich davon zu überzeugen, daß ich Henrik nicht im Stich gelassen habe. Aber ich habe ihm nicht so viel zugehört, wie ich es hätte tun sollen.
    In Orsa hielt sie an und aß. Mehrere junge Männer in Fußballtrikots - oder vielleicht waren es Eishockeytrikots - lärmten an einem Tisch. Sie verspürte plötzlich Lust, ihnen von Henrik zu erzählen und sie zu bitten, leise zu sein. Dann fing sie an zu weinen. Ein Lastwagenfahrer mit vorstehendem Bauch betrachtete sie. Sie schüttelte den Kopf, und er senkte den Blick. Sie sah, daß er nachdenklich irgendeine Art Lottoschein ausfüllte, und sie hoffte, daß er gewänne.
    Als sie durch die Finnenwälder fuhr, war es Abend. Bei einem Kahlschlag meinte sie einen Elch zu sehen. Sie hielt an und stieg aus. Sie suchte nach etwas, was sie übersehen hatte.
    Henriks Tod war nicht natürlich. Jemand hat ihn getötet. Etwas hat ihn getötet. Die rote Erde unter seinen Schuhen, die Erinnerungsbücher, seine plötzliche Freude. Was ist es, was zu sehen mir nicht gelingt? Die Scherben passen vielleicht zusammen, ohne daß ich es entdecke.
    In Noppikoski hielt sie noch einmal an, als sie vor Müdigkeit nicht mehr weiterfahren konnte.
    Wieder träumte sie von Griechenland, diesmal trat Vassilis jedoch nur am Rand in Erscheinung. Sie befand sich auf einer Ausgrabung, als es plötzlich zu einem Erdrutsch kam. Sie wurde unter der Erde begraben, augenblicklich war die Angst da, und gerade als sie nicht mehr länger atmen konnte, wurde sie wach.
    Sie fuhr weiter nach Norden. Der letzte Traum brauchte keine Erklärung.
    Spät in der Nacht erreichte sie Sveg. In der Küche war Licht, als sie auf den Hofplatz einschwenkte. Ihr Vater war wie immer wach. Wie schon so oft fragte sie sich, wie er all diese Jahre mit so wenig Schlaf hatte überleben können.
    Er saß am Küchentisch und ölte seine Schnitzwerkzeuge. Er schien nicht erstaunt zu sein, daß sie mitten in der Nacht zurückkam. »Bist du hungrig?« »Ich habe in Orsa gegessen.« »Das ist ein langer Weg.« »Ich bin nicht hungrig.« »Dann reden wir nicht weiter davon.«
    Sie setzte sich auf ihren gewohnten Platz, glättete das Wachstuch und erzählte, was geschehen war. Nachher saßen sie lange schweigend da.
    »Vielleicht hat Vrede recht«, sagte er schließlich. »Geben wir ihnen die Möglichkeit, mit einer Erklärung zu kommen.«
    »Ich glaube nicht, daß sie alles tun, was sie tun können. Eigentlich ist Henrik ihnen egal. Einer unter tausend anderen jungen Männern, die eines Tages tot in

Weitere Kostenlose Bücher