Kennedys Hirn
grübeln brauchen.«
Louise wußte, daß Artur nicht die Wahrheit sagte. Solange er lebte, würde er darüber nachgrübeln, was wirklich geschehen war. Warum hatte Henrik beschlossen, sich das Leben zu nehmen ? Wenn es denn das war, was geschehen war.
Auch Nazrin und Vera mochten nicht glauben, daß Göran Vredes Aussage tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Nazrin sagte: »Wenn er sich hätte umbringen wollen, hätte er etwas ganz anderes gemacht. Nicht mit Schlaftabletten in seinem Bett. Das wäre für Henrik zu dürftig gewesen.«
Louise erwachte am Morgen des 20. Oktober und sah, daß es in der Nacht Frost gegeben hatte. Sie ging hinunter zur Eisenbahnbrücke und stand lange am Geländer und starrte hinunter ins schwarze Wasser, das so schwarz war wie die Erde, in die sie Henriks Sarg hinabsenken würden. In dem Punkt war Louise ganz entschieden gewesen: Henrik sollte nicht verbrannt werden, sein Körper sollte in die Erde, so wie er war, nicht als Asche. Sie sah hinunter ins Wasser und erinnerte sich daran, an der gleichen Stelle gestanden zu haben, als sie jung und unglücklich gewesen war und vielleicht das einzige Mal daran gedacht hatte, sich das Leben zu nehmen. Es war, als stünde Henrik neben ihr. Auch er wäre nicht gesprungen. Er hätte sich festgehalten und nicht losgelassen.
Lange stand sie an diesem frühen Morgen auf der Brücke.
Heute begrabe ich mein einziges Kind. Ein anderes Kind werde ich nicht bekommen. In Henriks Sarg ruht ein entscheidender Teil auch meines Lebens. Ein Teil, der nie mehr zurückkommt.
Der Sarg war braun, es gab Rosen, keine Kränze. Der Organist spielte Bach und etwas von Scarlatti, was er selbst vorgeschlagen hatte. Der Pastor sprach gedämpft und ohne Gebärden, und Gott war nicht anwesend in der Kirche. Louise saß neben Artur, auf der anderen Seite des Sargs saßen Nazrin und Vera. Louise erlebte den Begräbnisakt wie aus weiter Ferne. Dennoch handelte er von ihr. Den Toten konnte man nicht bedauern, wer tot ist, ist tot und weint nicht. Aber sie selbst? Sie war bereits eine Ruine. Doch einige Gewölbebogen in ihr waren noch unversehrt. Und die wollte sie verteidigen.
Nazrin und Vera machten sich schon früh auf den Weg, um die lange Busfahrt nach Stockholm anzutreten. Doch Nazrin versprach, Kontakt zu halten, und wenn Louise in der Lage wäre, Henriks Wohnung aufzulösen, würde sie ihr helfen.
Am Abend saß Louise mit Artur zusammen in der Küche bei einer Flasche Schnaps. Er trank ihn mit Kaffee, sie mit Limonade verdünnt. Wie in stillschweigender Übereinkunft betranken sie sich. Gegen zehn Uhr hingen sie hohläugig über dem Küchentisch.
»Ich fahre morgen.«
»Zurück?«
»Fährt man nicht immer irgendwohin zurück? Ich fahre nach Griechenland. Ich muß meine Arbeit abschließen, und was danach kommt, weiß ich nicht.«
Früh am Morgen des nächsten Tages fuhr er sie zum Flugplatz nach Ostersund. Ein schwacher Schneefall hatte den Boden weiß gepudert. Artur drückte ihre Hand und bat sie, vorsichtig zu sein. Sie sah, daß er nach mehr suchte, was er ihr sagen konnte, aber es kam nichts. Im Flugzeug nach Arlanda dachte sie, daß er sicher am selben Tag anfangen würde, Henriks Gesicht in einen seiner Bäume zu meißeln.
Um 11 Uhr 55 bestieg sie eine Maschine nach Frankfurt, um von dort nach Athen weiterzufliegen. Doch als sie in Frankfurt ankam, war es, als fielen alle Beschlüsse, die sie gefaßt hatte, in sich zusammen. Sie stornierte den Flug nach Athen und saß lange da und blickte auf das diesige Flugfeld hinaus.
Sie wußte, was sie tun mußte. Artur hatte weder recht noch unrecht, sie gab nicht nach ihm gegenüber. Es war ihr eigener Entschluß, ihre eigene Einsicht.
Aron. Er war da. Er mußte dasein.
Spät am gleichen Abend stieg sie in eine Maschine der Quan-tas nach Sydney. Das letzte, was sie vor ihrem Abflug noch tat, war, einen Kollegen in Griechenland anzurufen und ihm zu sagen, daß sie noch nicht kommen könne.
Eine andere Reise, eine andere Begegnung war zuvor noch notwendig.
Neben ihr im Flugzeug saß ein Kind, das ohne Begleitung reiste, ein Mädchen, das sich alles dessen, was um sie her war, nicht bewußt zu sein schien. Das einzige, wofür sie Augen hatte, war eine Puppe, ein eigentümliches Zwischending zwischen einem Elefanten und einer alten Dame.
Louise Cantor sah in die Dunkelheit hinaus.
Aron. Er war da. Er mußte dasein.
B ei der Zwischenlandung in Singapur verließ Louise das Flugzeug und streifte in der
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