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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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sie auf den Tisch. »Ich bleibe einige Stunden weg«, sagte er. »Aber ich komme wieder.«
    »Ja«, sagte sie. »Diesmal verschwindest du nicht.«
    Ohne zu fragen, wußte sie, daß er zum Hafen fuhr, um zu fischen. Sie begann, die Briefe zu lesen, und dachte, daß er gegangen war, um sie allein zu lassen. Für das Alleinsein hat er immer Verständnis gehabt, dachte sie. In erster Linie sein eigenes. Aber vielleicht hat er inzwischen gelernt, auch die Bedürfnisse anderer zu respektieren.
    Sie brauchte zwei Stunden, um die Briefe durchzulesen. Es wurde zu einer schmerzlichen Reise in eine unbekannte Landschaft. Henriks Landschaft, von der sie nie besonders viel gewußt hatte, wie sie jetzt immer klarer erkannte, je tiefer sie darin eindrang. Aus Aron war sie nie klug geworden. Jetzt wurde ihr klar, daß ihr Sohn ihr ebenso verborgen geblieben war. Sie hatte eine Oberfläche gekannt. Seine Gefühle für sie waren echt gewesen, er hatte sie geliebt. Aber seine Gedankenwelt hatte er ihr zum größten Teil vorenthalten. Diese Einsicht quälte sie, während sie las, es war wie eine dumpfe Eifersucht, die sie nicht beiseite zu schieben vermochte. Warum hatte er mit ihr nicht in der gleichen Weise geredet wie mit Aron? Trotz allem war sie es gewesen, die ihn aufgezogen und die Verantwortung übernommen hatte, während Aron in den Rauschwelten des Alkohols oder der Computerbesessenheit gelebt hatte.
    Sie mußte sich das eingestehen. Die Briefe quälten sie und machten sie wütend auf den Toten.
    Was war es, das sie entdeckte, das sie vorher nicht gewußt hatte? Das sie zu der Einsicht brachte, einen ganz anderen Henrik gekannt zu haben als Aron. Henrik sprach mit Aron in einer fremden Sprache. Er versuchte, Argumentationen zu führen, nicht Gefühle und Einfälle zu beschreiben wie in den Briefen an sie.
    Sie schob die Briefe zur Seite und trat hinaus ins Freie. Tief unter ihr tanzte grau das Meer, die Papageien saßen abwartend in den Eukalyptusbäumen.
    Ich bin auch geteilt. Gegenüber einem Mann wie Vassilis war ich die eine, gegenüber Henrik eine andere, meinem Vater gegenüber eine dritte, Gott weiß, wer ich Aron gegenüber war. Dünne Wollfäden halten mich mit mir selbst zusammen. Aber alles ist hinfällig, wie eine Tür, die an verrosteten Angeln hängt.
    Sie kehrte zu den Briefen zurück. Sie erstreckten sich über einen Zeitraum von neun fahren. Anfangs vereinzelte Briefe, dann in Perioden immer mehr. Henrik beschrieb seine Reisen. In Shanghai war er über die Strandpromenade gewandert und hatte sich von der Geschicklichkeit der Scherenschnittkünstler faszinieren lassen. Sie schaffen es, mit ihren Scherenschnitten das Innere der Personen sichtbar zu machen. Ich frage mich, wie das möglich ist. Im November 1999 war er in Phnom Penh, unterwegs nach Angkor Vat. Louise suchte in ihrer Erinnerung. Er hatte ihr nie von dieser Reise erzählt, sondern nur gesagt, er sei mit einer Freundin an verschiedenen Orten in Asien gewesen. In zwei Briefen an Aron beschrieb er die Freundin als »schön, schweigsam und sehr dünn«. Sie reisten durch das Land, erschrocken über »das große Schweigen nach all dem Entsetzlichen, das sich hier abgespielt hat. Ich habe erkannt, welcher Aufgabe ich mein Leben widmen will. Das Leiden zu mindern, das wenige tun, was ich tun kann, das Große im Kleinen sehen.« Manchmal wurde er gefühlvoll, beinah pathetisch in seinem großen Schmerz über den Zustand der Welt.
    Doch nirgendwo in den Briefen an Aron sprach Henrik von Kennedys verschwundenem Hirn. Und keine seiner Beschreibungen von Mädchen oder Frauen paßte zu Nazrin.
    Am auffallendsten war, und das schmerzte sie am meisten, daß er sie in seinen Briefen nie erwähnte. Nicht ein Wort über seine Mutter auf den Ausgrabungen unter der heißen Sonne Griechenlands. Keine Andeutung über ihr Verhältnis, ihre Vertrautheit. Durch das Schweigen verleugnete er sie. Sie verstand zwar, daß sein Schweigen auf Rücksicht beruhte, aber dennoch kam es ihr vor wie ein Verrat. Das Schweigen schmerzte sie.
    Sie zwang sich weiterzulesen, alle ihre Sinne waren hellwach, als sie zu den letzten Briefen kam. Da tauchte etwas auf, worauf sie vielleicht unbewußt gewartet hatte, ein Umschlag mit einem lesbaren Stempel auf der Briefmarke. »Lilongwe in Malawi, Mai 2004«. Er erzählte von einem aufwühlenden Erlebnis in Mozambique, von dem Besuch an einem Ort, wo Kranke und Sterbende versorgt wurden. »Die Katastrophe ist so unerträglich, daß man verstummt.

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