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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Aber vor allem erschreckend; in der westlichen Welt begreifen die Menschen nicht, was hier vor sich geht. Man hat die letzten Bastionen des Humanismus aufgegeben, ohne auch nur die Bereitschaft erkennen zu lassen, diesen Menschen zu helfen, sie vor der Infizierung zu schützen oder den Sterbenden bis zu ihrem Tod ein würdiges Leben zu ermöglichen, so kurz oder lang es auch sein mag.«
    Es waren noch zwei Briefe ohne Umschlag da. Louise nahm an, daß Henrik wieder in Europa gewesen war. Sie waren im Abstand von zwei Tagen abgeschickt worden, am 12. und 14. Juni. Henrik machte einen äußerst labilen Eindruck, der eine Brief zeugte von Niedergeschlagenheit, der andere von Freude. In dem einen Brief hatte er resigniert, in dem anderen stand: »Ich habe eine furchtbare Entdeckung gemacht, die mich trotzdem mit Tätigkeitsdrang erfüllt. Aber auch mit Furcht.«
    Sie las die Sätze mehrmals. Was meinte er? Eine Entdek-kung, Tätigkeitsdrang, Furcht? Wie hatte Aron auf diesen Brief reagiert?
    Sie las die Briefe aufs neue, versuchte, Bedeutungen zwischen den Zeilen zu finden, aber ohne Ergebnis. Im letzten Brief, dem vom 14. Juni, kehrte er noch einmal zur Angst zurück. »Ich habe Angst, aber ich tue, was ich tun muß.«
    Sie streckte sich auf dem Sofa aus. Das Gelesene trommelte ihr wie aufgewühltes Blut gegen die Schläfen.
    Ich kannte nur einen kleinen Teil von ihm. Aron kannte ihn vielleicht besser. Aber vor allem kannte er ihn auf eine ganz andere Art und Weise.
    Aron kehrte in der Dunkelheit zurück und brachte Fisch mit. Als sie sich in der Küche neben ihn stellte, um die Kartoffeln zu schruppen, umfaßte er sie plötzlich und versuchte, sie zu küssen. Sie entzog sich. Es kam ganz unerwartet, sie hatte sich nicht vorstellen können, daß er versuchen würde, sich ihr zu nähern.
    »Ich dachte, du wolltest.«
    »Wollte was?«
    Er zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Es war nicht so gemeint. Bitte entschuldige.«
    »Natürlich war es so gemeint. Aber so etwas existiert nicht mehr zwischen uns. Zumindest nicht für mich.«
    »Es wird nicht wieder vorkommen.«
    »Nein. Es soll nicht wieder vorkommen. Ich bin nicht hier, um einen Mann zu finden.«
    »Hast du einen anderen?«
    »Das Beste, was wir jetzt tun können, ist, unser Privatleben aus dem Spiel zu lassen. Warst du es nicht, der das immer gesagt hat? Daß man es vermeiden sollte, zu tief in der Seele des anderen zu graben?«
    »Ich habe es gesagt, und ich meine es noch immer. Erzähl mir nur, ob es jemand in deinem Leben gibt, der dort ist, um zu bleiben.«
    »Nein. Es gibt niemand.«
    »Auch in meinem Leben gibt es niemand.«
    »Du brauchst nicht auf Fragen zu antworten, die ich gar nicht gestellt habe.«
    Er sah sie fragend an. Ihre Stimme hatte einen schrillen, anklagenden Ton angenommen.
    Sie aßen schweigend. Im Radio liefen australische Nachrichten. Ein Zugunglück in Darwin, ein Mord in Sydney.
    Dann tranken sie Kaffee. Louise holte die CDs und die Papiere, die sie mitgebracht hatte, und legte sie vor ihm auf den Tisch. Er blickte darauf, ohne etwas anzurühren.
    Er ging wieder nach draußen, sie hörte seinen Wagen anspringen, und erst nach Mitternacht kam er zurück. Da war sie schon eingeschlafen, wachte aber auf, als die Wagentür zugeschlagen wurde. Sie hörte, wie er sich leise durchs Haus bewegte. Sie glaubte, er sei eingeschlafen, als sie plötzlich an den Geräuschen erkannte, daß er seinen Computer eingeschaltet hatte und auf der Tastatur tippte. Vorsichtig stand sie auf und betrachtete ihn durch den Türspalt. Er hatte eine Lampe herangezogen und studierte den Bildschirm. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie er in der Zeit ihres Zusammenlebens gewesen war. Die große Konzentration, die sein Gesicht vollkommen reglos werden ließ. Zum ersten Mal, seit sie ihn auf der Hafenpier entdeckt hatte, spürte sie ein Gefühl von Dankbarkeit in sich aufwallen.
    Jetzt hilft er mir. Jetzt bin ich nicht mehr allein.
    In der Nacht schlief sie unruhig. Mehrmals stand sie auf und betrachtete ihn durch den Türspalt. Er arbeitete am Computer oder las in Henriks Dokumenten, die sie mitgebracht hatte. Gegen vier Uhr am Morgen lag er mit geöffneten Augen auf dem Sofa.
    Kurz vor sechs hörte sie schwache Geräusche aus der Küche. Er stand am Herd und machte Kaffee. »Habe ich dich geweckt?«
    »Nein. Hast du geschlafen?«
    »Ein bißchen. Aber genug. Du weißt, daß ich nie viel schlafe.«
    »Soweit ich mich erinnere, konntest du bis zehn oder elf Uhr

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