Kennedys Hirn
daß Henrik eine Wohnung in Barcelona hatte. Wußtest du davon?«
»Nein.«
Louise dachte an das B in Henriks Tagebüchern. Konnte es der Name einer Stadt sein, und nicht der einer Person?
»Er hat eine kleine Wohnung in einer Straße, die sonderbarerweise »Christus-Sackgasse« heißt. Sie liegt in der Innenstadt. Er hat den Namen der Hausmeisterin notiert, Seiiora Roig, und wieviel Miete er zahlt. Wenn ich seine Aufzeichnungen richtig verstehe, hat er die Wohnung seit gut vier Jahren, seit Dezember 1999. Er scheint den Vertrag am letzten Tag des alten Jahrtausends unterschrieben zu haben. Hatte Henrik Sinn für Rituale? Neujahrsnächte? Hat er Flaschenpost verschickt? War es wichtig für ihn, einen Vertrag an einem bestimmten Tag zu unterzeichnen?«
»Darüber habe ich nie nachgedacht. Aber er kehrte gern an Orte zurück, an denen er schon einmal war.«
»Da teilt sich die Menschheit in zwei Gruppen. Die einen hassen es zurückzukehren, die anderen lieben es. Du weißt, zu welcher Gruppe ich gehöre. Und du?«
Louise antwortete nicht. Sie zog den Bildschirm näher heran und las, was da stand. Aron stand auf und ging hinaus zu seinen Vögeln. Louise spürte eine instinktive Furcht, er könne plötzlich verschwinden.
Sie zog den Mantel an und folgte ihm. Die Vögel flatterten auf und flogen zu ihren Bäumen. Aron und Louise standen nebeneinander und blickten aufs Meer hinaus.
»Eines Tages werde ich einen Eisberg sehen. Ganz bestimmt.«
»Mir sind deine Eisberge scheißegal. Ich möchte, daß du mitkommst nach Barcelona und mir hilfst zu verstehen, was mit Henrik geschehen ist.«
Er antwortete nicht. Aber sie wußte, daß er diesmal tun würde, was sie wollte.
»Ich fahre zum Hafen hinunter zum Angeln«, sagte er nach einer Weile.
»Tu das. Aber denk daran, dir jemand zu suchen, der auf deine Bäume aufpaßt, solange du weg bist.«
Zwei Tage später verließen sie die roten Papageien und fuhren nach Melbourne. Aron trug einen verknitterten braunen Anzug. Louise hatte die Flugtickets gekauft, aber nicht protestiert, als Aron ihr Geld gab. Um Viertel nach zehn bestiegen sie die Lufthansa-Maschine, die sie über Bangkok nach Frankfurt bringen würde, von wo sie weiterfliegen würden nach Barcelona.
Sie sprachen darüber, was sie tun würden, wenn sie ankamen. Sie hatten keinen Schlüssel zu der Wohnung, und sie wußten nicht, wie die Hausmeisterin reagieren würde. Was wäre, wenn sie sich weigerte, sie hineinzulassen? Gab es in Barcelona ein schwedisches Konsulat? Sie konnten nicht vorhersehen, was passieren würde. Aber Louise bestand darauf, daß sie Fragen stellen mußten. Mit Schweigen würden sie nichts erreichen und Henrik nicht näherkommen. Dann müßten sie weiterhin zwischen den Schatten nach ihm suchen.
Als Aron mit dem Kopf an ihrer Schulter einschlief, spannte sie sich an, ließ aber seinen Kopf liegen.
Siebenundzwanzig Stunden später landeten sie in Barcelona. Am Abend des dritten Tages nach ihrer Abreise von den Papageien standen sie vor dem Haus in der engen Gasse, die Christi Namen trug. Aron ergriff ihre Hand, und sie traten ein.
Teil 2
DER TRÄGER DES LICHTS
»Besser ein Licht anzünden als das Dunkel verfluchen.« Konfuzius
D ie Hausmeisterin Senora Roig wohnte im Erdgeschoß links. Das Licht ging mit einem knarrenden Geräusch an.
Sie hatten beschlossen, die Wahrheit zu sagen. Henrik war tot, sie waren seine Eltern. Aron klingelte. Louise stellte sich die Hausmeisterin wie die concierge in Paris vor, wo sie Mitte der 1970er Jahre sechs Monate gewohnt hatte. Kräftig, mit straff hochgekämmtem Haar und einigen angefaulten Zähnen im Mund. Im Hintergrund lief der Fernseher, und vielleicht waren die nackten Füße ihres Mannes zu sehen, die er auf den Tisch gelegt hatte.
Die Tür wurde von einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau geöffnet. Louise sah, daß Aron beim Anblick ihrer Schönheit zusammenfuhr. Aron sprach ein halbwegs verständliches Spanisch. In seiner Jugend hatte er ein halbes Jahr in Las Palmas gelebt und in verschiedenen Lokalen gekellnert.
Senora Roig hieß mit Vornamen Bianca, und sie nickte freundlich, als Aron erklärte, daß er Henriks Vater und die Frau neben ihm Henriks Mutter sei.
Bianca Roig lächelte und ahnte nicht, was kommen würde. Louise dachte verzweifelt, daß er alles in der falschen Reihenfolge sagte. Aron erkannte seinen Fehler und sah sie wie um Nachsicht bittend an. Aber Louise wandte den Blick ab.
»Henrik ist tot«, sagte er. »Deshalb
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