Kennedys Hirn
sich, die sie über der linken Schulter trug, und lief davon. Sie sah sein Gesicht nicht, nur, daß er barfuß war, daß seine Kleidung zerrissen war und daß er sehr schnell lief. Der Mann mit den geweiteten Pupillen vor ihr stach sie mit dem Messer unter dem Auge und lief ebenfalls davon. Auch er trug keine Schuhe. Sie waren beide in Henriks Alter.
Dann schrie sie. Doch niemand schien sie zu hören, nur die unsichtbaren Hunde hinter den Mauern bellten. Ein Wagen näherte sich. Sie stellte sich in die Mitte der Straße und fuchtelte mit den Armen. Es blutete unter ihrem Auge, Blut tropfte auf ihre weiße Bluse. Der Wagen blieb zögernd stehen, sie erkannte einen weißen Mann hinterm Steuer. Sie schrie weiter und lief auf den Wagen zu. Da fuhr er mit quietschenden Reifen rückwärts, wendete und verschwand. Ihr wurde wirr im Kopf, sie konnte den Schock nicht länger fernhalten.
Dies hätte der verdammte Aron verhindert. Er wäre hiergewesen, hätte mich beschützt. Aber er ist weg, alle sind weg.
Sie sank auf den Bürgersteig und atmete tief durch, um nicht ohnmächtig zu werden. Als eine Hand an ihre Schulter rührte, schrie sie auf. Eine schwarze Frau stand da. Sie hielt eine Schale mit Erdnüssen in den Händen, roch stark nach Schweiß, ihre Bluse war zerrissen, das um den Leib gewickelte Tuch war schmutzig.
Louise versuchte zu erklären, daß sie überfallen worden sei. Die Frau verstand sie offenbar nicht, sie sprach ihre eigene Sprache und danach Portugiesisch.
Die Frau half ihr auf. Sie formte das Wort >hospital< mit den Lippen, aber Louise erwiderte >Polana, Hotel Polana<. Die Frau nickte, packte mit einem kräftigen Griff Louises Arm, balancierte die geflochtene Schale mit Erdnüssen auf dem Kopf und stützte sie, als sie zu gehen anfingen. Louise brachte mit einem Taschentuch das Blut zum Stillstand. Es war keine tiefe Wunde, eigentlich nur ein Kratzer in der Haut. Aber ihr kam es so vor, als wäre ihr das Messer geradewegs ins Herz gestoßen worden.
Die Frau an ihrer Seite lächelte ihr aufmunternd zu. Sie kamen zum Hoteleingang. Louise hatte kein Geld, es war in der Handtasche. Sie hob hilflos die Arme. Die Frau schüttelte den Kopf, sie lächelte die ganze Zeit, ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig, und sie ging weiter die Straße entlang. Louise sah ihr nach, wie sie geradewegs in das Sonnenflirren hineinwanderte und verschwand.
Als sie in ihr Zimmer gekommen war und sich das Gesicht gewaschen hatte, stürzte alles zusammen. Sie wurde ohnmächtig und sank auf den Fußboden des Badezimmers. Wie lange sie dort gelegen hatte, wußte sie nicht zu sagen, als sie wieder zu sich kam. Vielleicht nur ein paar Sekunden.
Sie lag völlig still auf dem gefliesten Fußboden. Von irgendwoher erklang das Lachen eines Mannes, danach das Jubeln einer Frau. Sie blieb auf dem Fußboden liegen und dachte, daß sie Glück gehabt hatte, weil sie nicht ernsthaft verletzt worden war.
Einmal, als sie noch sehr jung war und ein paar Tage in London verbrachte, war am Abend ein Mann auf sie zugekommen, hatte sie gepackt und versucht, sie in einen Hauseingang zu ziehen. Sie hatte getreten und geschrien und gebissen, bis er losgelassen hatte. Danach hatte sie keine persönliche Erfahrung mit Gewalt mehr gemacht.
War es ihr eigener Fehler, hätte sie sich vergewissern müssen, ob sie sich ohne Risiko frei auf den Straßen bewegen konnte, auch am Tage? Nein, es war nicht ihr Fehler, sie weigerte sich, eine Schuld bei sich zu sehen. Daß die beiden, die sie angegriffen hatten, barfuß waren und zerrissene Kleider trugen, gab ihnen trotz allem nicht das Recht, sie mit einem Messer ins Gesicht zu stechen und ihre Handtasche zu stehlen.
Sie setzte sich auf. Vorsichtig erhob sie sich und streckte sich dann auf dem Bett aus. Es durchfuhr sie wie ein Beben. Sie war selbst ein Krug, der vor ihren Augen zerschlagen wurde. Die Scherben wirbelten um sie herum. Sie fühlte, daß
Henriks Tod sie eingeholt hatte. Jetzt kam der Zusammenbruch, es gab nichts mehr, was sie noch aufrecht hielt. In einem hilflosen Versuch, Widerstand zu bieten, richtete sie sich im Bett auf, legte sich aber sofort wieder hin und ließ es geschehen.
Die Flutwelle, von der sie gehört hatte, die Welle, die niemand abbilden konnte, die Welle, die zu einem Wüten anwuchs, das sich niemand vorstellen konnte. Ich habe versucht, ihn einzuholen. Jetzt bin ich in Afrika. Aber er ist tot, und ich weiß nicht, warum ich hier bin.
Zuerst kam die Welle, dann die
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