Kennen Wir Uns Nicht?
rutschen, mit gepierctem Nabel, blauer Stachelhaarfrisur und mindestens sechs Schichten Wimperntusche. Ich habe keinen Schimmer, wer das ist.
»Oh, mein Gott.« Sie schlägt die Hand vor den Mund, als sie mich sieht. »Du bist ja völlig entstellt. Tut das weh?«
»Eigentlich nicht.« Ich lächle höflich. Das Mädchen kneift die Augen zusammen und mustert mich.
»Lexi ... ich bin‘s. Du weißt doch, wer ich bin, oder?«
»Klar!« Ich mache ein betretenes Gesicht. »Hör mal, es tut mir wirklich leid, aber ich hatte einen Unfall und kann mich nicht mehr so richtig erinnern. Ich meine, wir sind uns bestimmt schon mal begegnet, aber ...«
»Lexi?« Sie klingt, als könne sie es nicht glauben, beinah gekränkt. »Ich bin‘s doch! Amy!«
Ich bin sprachlos. Ich bin mehr als sprachlos. Das kann doch nicht meine kleine Schwester sein.
Ist es aber. Amy hat sich in einen frechen, schlaksigen Teenager verwandelt. Praktisch erwachsen. Während sie im Zimmer herumläuft, alles in die Hand nimmt und wieder weglegt, betrachte ich fasziniert, wie groß sie geworden ist. Wie selbstbewusst sie ist.
»Gibt‘s hier was zu essen? Ich bin am Verhungern.« Sie hat noch immer dieselbe süße, heisere Stimme wie früher, wenn auch ausdrucksvoller. Lässiger und abgeklärter.
»Mum holt gerade was. Wir können es uns teilen, wenn du magst.«
»Super.« Sie setzt sich auf einen Stuhl und schwingt ihre langen Beine über die Armlehne, als wollte sie mir ihre grauen Wildlederstiefeletten mit Pfennigabsätzen zeigen. »Und du kannst dich an nichts erinnern? Das ist ja so was von cool!«
»Das ist überhaupt nicht cool«, protestiere ich. »Es ist schrecklich. Ich weiß noch alles, bis zu dem Tag vor Dads Beerdigung ... bis dahin, aber weiter nicht. Ich kann mich nicht mal an meine ersten Tage im Krankenhaus erinnern. Als wäre ich gestern Abend zum ersten Mal aufgewacht.«
»Abgefahren.« Sie macht große Augen. »Du weißt also nicht, dass ich dich hier schon mal besucht habe?«
»Nein. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du zwölf. Mit Pferdeschwanz und Zahnspange. Und diesen süßen Haarbändern, die du immer getragen hast.«
»Erinner mich bloß nicht daran!« Amy tut, als müsste sie kotzen. Dann runzelt sie die Stirn. »Also ... damit ich dich richtig verstehe: Deine letzten drei Jahre sind völlig weg.«
»Da ist nur ein großes, schwarzes Loch. Und selbst davor ist alles irgendwie schwammig. Wie es aussieht, bin ich verheiratet.« Ich lache etwas nervös. »Ich hatte keine Ahnung! Warst du bei der Hochzeit meine Brautjungfer?«
»Ja«, sagt sie gedankenverloren. »War ganz cool. Hey, Lexi, ich möchte eigentlich nur ungern davon anfangen, wo du so krank bist und alles, aber ...« Sie zwirbelt eine Strähne und wirkt verlegen.
»Was?« Überrascht sehe ich sie an. »Raus damit!«
»Naja, es ist nur ... du schuldest mir siebzig Pfund.« Sie zuckt bedauernd mit den Schultern. »Du hast sie dir letzte Woche geliehen, als deine Bankkarte nicht funktioniert hat, und du hast gesagt, du gibst sie mir wieder. Das weißt du wahrscheinlich nicht mehr ...«
»Oh«, sage ich perplex. »Natürlich. Bedien dich.« Ich deute auf die Louis Vuitton-Tasche. »Ich weiß allerdings nicht, ob ich Bargeld habe.«
»Bestimmt«, sagt Amy und zieht leise lächelnd den Reißverschluss auf. »Danke!« Sie steckt die Scheine ein und schwingt ihre Beine wieder über die Lehne, spielt mit ihren silbernen Armreifen herum. Dann blickt sie auf, plötzlich hellwach. »Warte mal. Weißt du denn von ...!« Sie stutzt.
»Was?«
Sie mustert mich ungläubig. »Keiner hat dir was gesagt, oder?«
»Was gesagt?«
»Du meine Gütel Wahrscheinlich wollen sie es dir langsam und schonend beibringen, aber ich finde ...« Sie schüttelt den Kopf, knabbert an ihren Fingernägeln herum. »Ich persönlich finde, du solltest es lieber früher als später erfahren.«
»Was erfahren?« Ich schalte auf Alarm. »Was, Amy? Sag es mir!«
Einen Moment scheint Amy mit sich zu ringen, dann steht sie auf.
»Bleib, wo du bist.« Sie verschwindet kurz, und als sie zurückkommt, hält sie ein asiatisches Baby auf dem Arm. Es hat eine Latzhose an, hält einen Becher in der Hand und strahlt mich mit sonnigem Lächeln an.
»Das ist Lennon«, sagt sie, und ihre Miene entspannt sich. »Dein Sohn.«
Ich glotze die beiden an, starr vor Entsetzen. Was redet sie da?
»Du kannst dich wohl nicht erinnern, was?« Liebevoll streichelt Amy ihm übers Haar. »Du hast ihn
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