Keraban Der Starrkopf
bilden sollten? War Iphigenia, die Tochter Agamemnons und Klytemnästras, nachdem sie in Tauris Priesterin der Diana geworden, nicht nahe daran, ihren durch den Sturm an das Ufer des Vorgebirges Parthenium geschleuderten Bruder Orestes der keuschen Göttin zum Opfer zu bringen?
Und ist jetzt die Krim in ihrem südlichen Theile, der mehr werth ist, als alle kahlen Inseln des Archipels, mit ihrem Tchadir-Dagh, der in der Höhe von 1500 Metern über dem Meere einen tischflächenartigen Gipfel zeigt, auf dem man ein Festmahl für alle Götter des Olymps ausrichten könnte, mit seinen Amphitheatern von Wäldern, deren üppiggrüner Mantel sich bis zum Meere hinab erstreckt, mit seinen Hainen von wilden Maronen, Cypressen, Oliven, Judenkirsch-, Mandel-und Bohnenbäumen, mit ihren von Puschkin besungenen Wasserfällen nicht der herrlichste Edelstein in jener Krone von Provinzen, welche sich vom Schwarzen Meere bis zum Eismeer erstrecken? Suchen nicht in ihrem belebenden, gemäßigten Klima ebenso die Russen aus dem Norden, wie die aus dem Süden willkommene Zuflucht, die Einen, um sich gegen die Strenge des hyperboräischen Winters, die Anderen, um sich gegen die ausdörrende Hitze des Sommers zu schützen? Finden sich nicht hier, rund um das Cap Aja, diesem Widderkopfe, der an der äußersten Spitze des südlichen Tauris den Stürmen des Pontus Euxinus die Stirn bietet, jene Colonien von Schlössern, Villen und Landhäusern, Yalta Alupka, welches dem Fürsten Woronzow gehört, äußerlich eine Ritterburg, im Innern die Verwirklichung eines Traumes von orientalischer Pracht bildet; Kisil-Tasch, Eigenthum des Grafen Poniatowski; Artek, im Besitze des Fürsten Andreas Galitzin; Marsanda, Orianda, Eriklik, alle drei kaiserliche Sommersitze, ebenso wie Livadia, ein bewundernswerther Prachtbau, umgeben von murmelnden Quellen, launischen Bergströmen und Wintergärten, der Lieblingsaufenthalt der Kaiserin aller Reußen?
Es hat den Anschein, als ob der wißbegierigste, der sentimentalste, der künstlerischste wie der romantischste Geist in diesem Erdenwinkel reelle Befriedigung gerade hier finden müßten, in dieser Welt im Kleinen, wo Europa und Asien sich ein Stelldichein geben. Hier vermischten sich tatarische Dörfer, griechische Ansiedelungen, orientalische Städte mit Moscheen, Minarets, Muezzins und Derwischen und Klöstern des russischen Ritus mit den Serails von Khans, der Thebaïden, an welche sich zahlreiche Abenteuer knüpfen; mit heiligen Orten, nach denen unzählige Pilger von allen Seiten her wallfahrten; einem jüdischen Berge, der dem Stamme der Karaïten angehört, und mit einem Thale Josaphats, das dem weitberühmten Thale von Kidron ähnelt, wo einst beim Schalle der Posaunen des Jüngsten Gerichts Milliarden von Denen zusammenströmen sollen, welche Rechenschaft abzulegen haben vor dem Throne Jehovas.
Es war ein richtiger Platzregen von Tulpenzwiebeln. (S. 140.)
Welches Wunderland sollte Van Mitten also besuchen! Wie viele Erinnerungen würde er zu verzeichnen haben an dieses Fleckchen Erde, durch welches ein merkwürdiges Schicksal ihn führte! Sein Freund Keraban reiste freilich nicht, um etwas zu sehen, und Ahmet, der alle Schönheiten der Krim schon längst kannte hätte nicht eine Stunde Frist gegönnt, dieselben näher in Augenschein zu nehmen.
»Vielleicht – unter Berücksichtigung unserer Verhältnisse, freilich nur vielleicht, sagte sich Van Mitten, werd’ ich doch im Fluge einen oberflächlichen Eindruck von diesem, mit Recht hochgepriesenen alten Chersones erhaschen können.«
Es sollte nicht so kommen. Der Wagen suchte nur den allerkürzesten Weg und folgte einer schrägen Linie von Nord nach Südost, ohne weder den mittleren Theil, noch die Südküste des alten Tauris zu berühren.
Die Reiseroute, so wie sie eingehalten wurde, war durch eine Verhandlung festgesetzt worden, bei der der Holländer nicht einmal eine berathende Stimme gehabt hatte. Wenn man mit dem Wege über die Krim eine Rundfahrt um das Asow’sche Meer ersparte – welche die Reise selbst um mindestens 150 Lieues verlängert hätte – so verkürzte sich die Tour noch weiter, wenn man sich von Perekop aus direct nach der Halbinsel von Kertsch begab. Auf der entgegengesetzten Seite der Straße von Kertsch (oder der Meerenge von Jenikaleh) bot dann die Halbinsel von Taman einen bequemen Weg bis zum Küstenlande des Kaukasus.
Yalta (Krim) (S. 143.)
Der Wagen rollte also auf dem schmalen Isthmus hin, vor
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