Kerker und Ketten
der ihm die richtige Größe zu haben schien, und befestigte ihn aufatmend an seiner Schärpe. Hamid war noch immer nicht zu sich gekommen.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, rannte Michel zu seinem Pferd. Er saß auf und stieß dem Tier die Hacken in die Weichen. Erst als er zum Tor hinausritt, erreichte sein Ohr die kreischende Stimme Hamids, der ihm alle Flüche Arabiens hinterherschickte.
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Im 7. Jahrhundert nach Christi Geburt, während der Ausbreitung der Lehre Mohammeds über die orientalische Welt, wurde die alte römische Festung, die später von den Vandalen zerstört worden war, zum zweiten heiligen Zentrum der islamischen Welt: Fes, die glänzende Stadt mit über siebenhundert Moscheen, herrlichen Bauten orientalischer Kunst, vielen Hochschulen und anderen Sehenswürdigkeiten, galt nächst Mekka für die heiligste Stadt der Muslimun. Sie wurde um 750 zur Hauptstadt der Reiche Fes und Marokko und zählte fast eine halbe Million Einwohner.
Indessen sanken ihre Größe und ihr Ruhm im 16. Jahrhundert wieder; dennoch blieb sie eine der beiden Haupt- und Residenzstädte der Sultane von Marokko.
In einer von Bergen umschlossenen, etwa 25 Kilometer langen Talebene, zwischen anmutigen Blumen- und Fruchtgärten, liegt das einstige Juwel der Mohammedaner am Fuß des Dschebel Salah. Weder heute noch zur Zeit, da unsere Geschichte spielt, mangelte es ihr an malerischen Effekten. Die Stadt, die um 1776 herum nurmehr etwa neunzigtausend Einwohner in ihren Mauern beherbergte, wird von einem wasserreichen Nebenfluß des etwa sechs Kilometer entfernten Sebu in zwei Teile geteilt. Dieser Nebenfluß heißt wie die Stadt; oder auch, die Stadt hat ihren Namen von dem Fluß bekommen. Im Westen liegt das alte Fes-Bali, im Osten, terrassenförmig ansteigend, das sogenannte neue Fes-el-Dschedid, dessen Gründung bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückgeht. Beide Städte vereinigen sich im Norden an einem Berg, der die Kasbah, das Eingeborenenviertel, trägt.Damals, 1776, waren beide Städte noch von fast fünfzehn Meter hohen Mauern umgeben, hinter denen sich die vielen Bewohner aller Rassen vor den Angriffen der wilden Bergstämme durchaus sicher fühlen konnten. Die Gäßchen und Straßen waren eng und zum Teil schon wieder verfallen. Gepflasterte Wege gab es kaum. In einem besonderen Viertel wohnten die etwa zehntausend Köpfe zählenden Juden. Das Ghetto trug den Namen Milha. Von den 700 Moscheen der Glanzzeit standen nur noch etwa 150, von denen die des Muley-Edris mit dem Grabmal ihres Gründers und die Karubin die berühmtesten und schönsten sind. In der Karubin befindet sich eine mohammedanische Priesteruniversität mit einer umfangreichen Universität, in der viele Theologen aus der ganzen arabischen Welt herangebildet werden. Dadurch wurde Fes, obwohl es seine äußerliche Pracht verloren hatte, zum geistigen Mittelpunkt des Orients. Im übrigen war und ist Fes eine typische arabische Stadt mit Hunderten von Basaren, Kaufläden, türkischen Schwitzbädern und dazwischen wimmelnden Menschen. Der Handel blühte und gedeiht heute noch. Damals hatten die größten Karawansereien dort ihre Niederlassungen. Ihre Karawanen zogen bis nach Timbuktu und brachten die in Fes hergestellten Waren in alle Welt. Einer der begehrtesten Ausfuhrartikel war der rote Fes, die überall bekannte orientalische Kopfbedeckung. In Fes residierte damals der Sultan von Marokko, Muley Sidi Mohammed, ein milder und gerechter Herrscher, mit dem die Gesandten der europäischen Nationen gern in Fühlung kommen wollten.
Er bewohnte einen prächtigen Palast im neueren Fes und beschäftigte sich mit Plänen der Erschließung des rückständigen Landes, ließ Straßen anlegen und zog die geistige Elite Arabiens in seinen Schulen und Universitäten zusammen. —
Es war ein grauer, wölken verhangener Januartag, als Steve und Isolde Hawbury hinter Ojo in die Hauptstraßen von Fes einritten. Sie machten einen müden und abgespannten Eindruck. Aber ihre weite Fahrt war ohne besondere Zwischenfälle verlaufen.
»Ich bin dafür, daß wir uns zuerst einmal nach einer einigermaßen sauberen Herberge umsehen«, brummte Ojo. »Ich bin müde wie ein Hund, und mein Gaul ist so abgekämpft wie ich.« »Was will er?« fragte Steve seine Schwester. Sie erklärte es ihm.
»Sag ihm, er soll ruhig suchen. Wir werden jetzt zum Sultan reiten. Dorthin können wir ihn sowieso nicht mitnehmen.«
»Nicht mitnehmen?Weshalb denn nicht?« fragte Isolde.
»Ich bitte dich,
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