Kerker und Ketten
Stunden hatte die gesamte Prozedur gedauert. Als Ojo wieder auf die Straße trat, fühlte er sich wie neugeboren. Alle Mattigkeit war von ihm gewichen. Sein Blutkreislauf war angeregt. Er fühlte neue Unternehmungslust in sich wachsen.
Mit einem Satz saß er im Sattel. Am Rand der alten Stadt fand er ein Gasthaus, dessen Inhaber Spanier war. Froh, in diesem Gewimmel fremder Rassen und Zungen einen Landsmann getroffen zu haben, blieb er hier.
Auch der Wirt freute sich über den Besuch und holte tiefgekühlten Wein aus dem Keller. Ojo fühlte sich so wohl wie lange nicht.
39
»Na endlich«, sagte Steve befriedigt, als sie vor dem großen Eingangstor des Palastes ankamen. »Zitterst du nicht vor Aufregung, Isolde? In spätestens zehn Minuten sitzen wir unserem Vater gegenüber.«
Vor dem Tor ging ein Posten in malerischer Uniform auf und ab. Das Gewehr, eine Muskete, die wahrscheinlich noch aus der Zeit der Entdeckung Amerikas stammte, hatte er mit dem Lauf nach unten geschultert. Mißtrauisch beäugte er jetzt die beiden Reiter, von denen der eine einen langen, ungepflegten Bart trug, der andere aber ein Milchgesicht hatte, das völlig bartlos war. Der Posten konnte sich nicht darüber klar werden, mit Leuten welchen Schlags er es hier zu tun hatte. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich; denn er ahnte natürlich nicht, daß die beiden im nächsten Augenblick versuchen würden, das Allerheiligste, den Palast des Sultans zu betreten. Steve stieg vom Pferd und half dann seiner Schwester herunter. Beide führten ihre Tiere am Zügel und traten auf den Posten zu.
»Salam alejkum«, grüßte Steve in seinem schlechten Arabisch.
»W'alejk sal«, erwiderte der Posten unhöflich. Einem Mann, der nicht einmal einen Turban oder einen Fes, die Zierde des Rechtgläubigen, trug, brauchte man nicht den ganzen Gegengruß zu erweisen.
»Wir möchten in den Palast«, sagte Steve.
»Wollt ihr vielleicht den Emir el Mumenin 1 besuchen?« fragte der Wärter lachend.
»Das auch. Aber zuerst wollen wir zu dem englischen General, Lord Hawbury, der im Palast des Sultans wohnt.«
»Ah! So habt Ihr wohl gar eine Botschaft für ihn?« »Er ist unser Vater.«
»So, er ist euer Vater — er ist euer Vater«, der Posten wollte sich ausschütten vor Lachen. »Sagt, ist ein englischer Lord nicht so etwas Ähnliches wie ein Kajd [10] , dem die Leute gehorchen und der viele Schafe sein eigen nennt?« »Er ist nicht nur ein Kajd, er ist ein Emir.«
»Ein Emir, so, so, und Ihr seid also die Kinder eines Emirs, o Allah, was müssen die Engländer für arme Leute sein, wenn sie so schmutzige Söhne haben.«
Steve blickte seine Schwester an. Isolde war blaß geworden. Sie kannte die Ansichten und Sitten der Araber besser als ihr Bruder und wußte, daß dieser Posten sie niemals in den Palast eintreten lassen würde. Er glaubte wohl kein Wort von dem, was ihm Steve erzählte.
Ihre Gedanken wurde auch sogleich bestätigt; denn jetzt meinte der Posten weniger freundlich:
»Was steht ihr noch hier herum? Das ist kein Platz, an dem sich Bettler und Händler ausruhen dürfen. Macht, daß ihr weiterkommt, sonst mache ich euch Beine.«
In Steve kochte es.
»Du Hundesohn!« schrie er außer sich und stürzte sich auf den Araber, der ihn um halbe Haupteslänge überragte.
Er erhielt einen heftigen Schlag vor die Brust und taumelte zurück. Als er mit der Hand nach dem Brustkorb griff, spürte er ein schmerzhaftes Ziehen oberhalb der sechsten Rippe.
Isoldes Nerven waren diesen neuerlichen Aufregungen nicht mehr gewachsen. Sie begann zu weinen. Die Tränen rannen ihr über die weichen Wangen, so daß sie der Posten erstaunt ansah. »Bist du ein Weib?« fragte er ärgerlich, »daß du so heulst?« »Ich bin die Schwester dieses Mannes«, sagte Isolde schluchzend. »Allah kerim, was wollt ihr denn nur beim Sultan?«
»Wir wollen wirklich nur zu dem englischen General, der bei ihm zu Gast ist.« Jetzt stampfte der Posten zornig mit dem Fuß auf.
»Maschallah, deine verdammten Tränen rühren mich nicht. Ihr müßt euch einen Dümmeren aussuchen, wenn ihr ihm solche Märchen aufbinden wollt. Seht zu, daß ihr Boden gewinnt, sonst rufe ich die Wachen, und ihr wandert in den Kerker. Barra, barra!«
Er machte mit dem Gewehrkolben abermals eine bezeichnende Geste. Isolde zog es vor, nicht zu dicht an ihn heranzukommen. Steve stand an den Zaun gelehnt und hielt sich die schmerzende Brust. Er stöhnte leise.
»Was machen wir nun?« fragte Isolde mit
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