Kerker und Ketten
die englischen Worte vernahm. Wie ein Blitz fuhr ihm der Name seines alten Freundes, Lord Hawbury, in die Glieder.
»Halte an, John« rief er dem Kutscher zu.
Als der Wagen stand, lehnte er sich hinaus und fragte die Rufende: »Wer seid Ihr?«
Isolde starrte ihn an. Sie erkannte den Mann nicht, der sich unter seinem weißen Tropenhelm zu ihr hinausbeugte.
»Ihr — Ihr — seid ja gar nicht mein Vater?!«
Fassungslosigkeit lag in ihrer Stimme. Sie hatte so fest mit einem Wiedersehen gerechnet, daß ihre Enttäuschung im Augenblick maßlos war.
Der Weiße betrachtete den zerlumpten Kerl mit der mädchenhaften Stimme aufmerksam. »Bitte, sagt mir doch, wer Ihr seid.« Isolde nahm sich zusammen.
»Ich bin die Tochter des Generals Hawbury, der hier als Militärattache Seiner Majestät des Königs von England beim Sultan akkreditiert ist.«
»Steigt ein, Miss Hawbury«, sagte der Engländer kurz. »Ich werde für Euch tun, was ich kann.« »Wo ist mein Vater? — Ist er — ist er etwa — tot?«
»Nein, macht Euch keine unnötigen Sorgen. Aber sein Auftrag war kurze Zeit nach Eurer Entführung beendet. Man brauchte ihn in England nötiger. So ist er, nachdem alle Nachforschungen nach Euch ohne Erfolg geblieben waren, zurückgereist, um seine Tätigkeit im Kolonialamt wieder aufzunehmen. An seiner Statt wurde ich hier akkreditiert.« Isolde Hawbury berichtete dem Attache ihre vielen Erlebnisse. Der General kam aus dem Staunen nicht heraus.
»Ihr seid ein Teufelsmädel. Ich glaube, Euer Vater wird stolz auf Euch sein, wenn er Euch in London in die Arme schließen wird. Ich werde natürlich sofort für Eure und Eures Bruder Abreise Vorkehrungen treffen. Können wir Euern Bruder jetzt besuchen?« Isolde zögerte.
»Ich glaube, es wäre dem alten Philosophen nicht angenehm. Wenn Ihr mir freien Durchgang am Palasttor verschafft, so werde ich ihn heute nachmittag mit Ojos Hilfe dorthin bringen.«»Ojo? An, das ist der starke Spanier, von dem Ihr berichtetet, ist der noch immer bei Euch?« Isolde sah sich um. Dann deutete sie lächelnd mit der Hand hinter sich. »Dort reitet er. Er ist der treueste Bursche, den ich je gesehen habe.«
Alles ließ sich so an, wie der General versprochen hatte. Die Geschwister zogen noch am selben Nachmittag in den Palast ein. Der Posten, der ihnen den Eintritt verwehrt hatte, wurde bestraft. Nur abreisen konnten sie nicht so schnell. Der General bestand darauf, daß sie warten sollten, bis seine Mission hier erfüllt wäre, was höchstens noch einige Wochen in Anspruch nehmen würde, um dann mit ihm nach England zurückzukehren.
Ojo fühlte sich nicht wohl in den glänzenden Gemächern. Ihn zog es zu seinem spanischen Wirt. »Ihr seid mir nicht böse, Senorita, wenn ich lieber dort wohnen möchte, nicht wahr? Wißt Ihr, ich komme mir hier in diesem Palast todunglücklich vor. Und mein Freund, der Wirt, sehnt sich sicherlich genauso nach mir, wie ich mich nach seinem Wein sehne. Ich hoffe, Ihr versteht mich richtig.«
»Ich habe nichts dagegen, Senor Ojo. Habt Ihr noch nichts von Senor Baum gehört?« Ojo seufzte.
Die Gedanken an Michel ließen ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Deshalb wollte er ja dorthin gehen, wo es wenigstens Wein gab, um sie zu betäuben. Er hatte sich wiederholt schon vorgenommen, nach Oran zurückzureiten, sagte sich aber — und die anderen bestätigten ihm seine Ansicht —, daß es schwer sei, ohne eingehende Kenntnisse des Landes und der Sprache, den Weg dorthin zurück noch einmal zu schaffen.
So entschloß er sich, in der spanischen Taberna abzuwarten, was sich ereignen würde. Und er brauchte nicht mehr lange zu warten.
44
Es waren seit seinem Auszug aus dem Palast weitere vier Tage vergangen, als Ojo ein eigenartiges Erlebnis hatte.
Er machte, wie üblich, am frühen Nachmittag seine Runde durch die Stadt, als er einen Mann erblickte, der auf dem Rücken seines Burnus ein Stück schwarzes Tuch aufgenäht hatte, auf dem in weißer, flüchtig ausgeführter Stickerei zwei Hände zu sehen waren. Die eine Hand lag streichelnd auf einem Frauenkopf, die andere griff nach einem Schiff. Ojo überlegte krampfhaft, woher ihm dieses Symbol bekannt war. Er ging hinter dem Araber her. Dann, nach kurzem Zögern, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte:
»Hört, guter Freund, was tragt Ihr da für ein Zeichen auf dem Rücken?« Er deutete dabei auf die Stickerei.
Der Araber verstand natürlich nichts, fiel aber mit einem riesigen Wortschwall über den armen Ojo
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