Kerrion 3 - Traumwelt
solle entscheiden, wie sie diese Handlung bewerte: als endgültigen Bruch oder als Wiederanknüp-hing - beides könne in dieser Gabe gesehen werden, und er selbst werde sie in dieser Vieldeutigkeit auch belassen - »das ist das Ehrlichste so, denn ich weiß tatsächlich nicht, was ich will«. Nur stehe ihm nicht mehr vor Augen, wo er den Ring nach seinem Auszug aus der Wohnung bloß hingetan habe. Lange habe er gesucht, vergeblich. Da sei ihm in der letzten schlaflosen Nacht - »können Sie bei dieser Hitze schlafen?« -plötzlich die Eingebung zuteil geworden, der Ring könne in jenem Glas mit den Reisemünzen sein. Daß dieses Glas immer noch in dieser Wohnung herumstehe, sei an sich schon ein Wunder - warum kein zweites Wunder erwarten? Ob sie gestatte, daß er einmal nachsehe?
Ina stand sofort auf und holte das Glas aus der Küche. Auf dem Schreibtisch mit den Säulenbeinen leerte sie die Münzen aus. Sieger hatte sich erhoben und sah auf den staubigen Haufen. Mit den Fingerspitzen schob er die Münzen auseinander, bis keine mehr auf der anderen lag.
»Es ist eine Enttäuschung«, sagte er leise, fuhr dann aber mit einem Eifer fort, als müsse er sich selbst überreden: »Ja, es ist mehr: das Ende der Täuschung. Ich habe mich in meiner Nachtstunde nur allzu gern von der Täuschung umarmen lassen, aber der Tag läßt dies Gespenst zerflattern. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, daß sie mir Gewißheit in dieser Frage verschafft haben« - wenn er die Wahrheit gesprochen habe, als er ihr seine Willens- und Absichtslosigkeit gestand - und er sei davon überzeugt -, dann dürfe er jetzt nicht betrübt sein. Ein bestimmter Weg, der sich als Möglichkeit auftat, sei verschlossen. Es sei der nicht ihm bestimmte Weg. Mit solchen Reden wiegte und schob er sich dem Korridor entgegen. Er verließ Ina, indem er sie zärtlich, wie ihr vorkam, aus seinen kleinen Augen ansah. Sie stellte sich vor, daß in seinem Leib eine kleine hochbewegliche Seele wie ein Flaschen teufelchen eingesperrt war, die zwischen seinen Füßen und dem Kopf auf den sanftesten Druck hin auf- und abtanzte.
Als Ina allein war, ging sie nachdenklich im Korridor spazieren. War es nicht ein Zeichen, daß im abgesteckten Kreis dieser Wohnung nun schon wieder etwas nicht an dem Platz gewesen war, an dem es mit Sicherheit vermutet wurde? Sie staunte, wie gefaßt Sieger das Verschwinden des Ringes aufgenommen hatte, als wäre seine Wiederauffindung so bedeutsam auch nicht gewesen. In träumerischen Gedanken legte sie sich auf das Sopha und ließ den Besuch des Hausbesitzers an sich vorbeiziehen. Er war ein Liebender, daran bestand für sie kein Zweifel, und indem sie das dachte, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen, aber diesmal nicht heftig quellend, ja geradezu spritzend wie beim letzten Mal, sondern als milde, große Tropfen, die eine Weile in ihren schönen Wimpern hängenblieben und dann über Schläfen und Wangen hinabrannen. Ein tiefes Selbstmitleid erfüllte sie. In welchem Gedicht stand die Zeile: »Was hat man dir, du armes Kind, getan?« Angesichts
Siegers Liebe fühlte sie sich unendlich verlassen und zu kurz gekommen. Nie würde sie etwas Ähnliches erleben.
Als sie dann in Schlaf sank, merkte sie eine Weile nicht, daß sie träumte, denn sie durchwanderte auch mit zugefallenen Augen ihre Wohnung, öffnete die Türen und sah in die aufgeräumten Zimmer. Alles, was darin war, erkannte sie als etwas Vertrautes oder gar selber Angeschafftes und selber Aufgestelltes. Auch was Sieger gehörte, wurde jetzt im Traum noch einmal ganz deutlich so benannt. So hübsch und mit leichter Hand dekoriert, wie sie in der Tageswirklichkeit erschien, erlebte sie auch die Wohnung des Traumes. Sie sah die Teppiche und die neuen Fenster, die Souad leider anstelle der Sprossenfenster hatte einsetzen lassen, weil er als Hausmeister ein besonders ernsthaftes Verhältnis zur Heizung unterhielt, vielleicht auch weil sein südliches Herz in Deutschland zu verfroren war.
Warum also war dies ein derart beunruhigender, ja erschrek-kender Traum? Figuren traten keine auf, es war nur ein Schweifen durch die renovierten Räume. Der Schrecken entstand denn auch nicht durch die Bilder, die der Traum zeigte, als vielmehr durch das Wissen der Schläferin, worum es sich bei diesen Räumen handelte.
In ihrem Schlafzimmer, dem am wenigsten hübschen Zimmer der Wohnung, weil es für ein großes, modernes Ehebett einfach zu klein war, hörte sie, während sie den Traum-Fußboden
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