Kesrith – die sterbende Sonne
verweigert. Und nachdem Niun mit seiner Frage beim Kel gescheitert war, hatte er gewagt, sich mit ihr an Intel zu wenden. Und Intel hatte ihn voll befremdeter Sorge angeblickt, als sei das Begriffsvermögen ihres letzten Sohnes grundsätzlich mangelhaft. Sie hatte ihm jedoch freundlich Allgemeinplätze über Geduld und Mut vermittelt und es dabei vorsichtig vermieden, seine Frage irgendwie direkt zu beantworten.
Und Tag für Tag gingen die Regul-Schiffe ab, ohne Mri-Kel'ein an Bord. Die She'pan hatte es verboten.
Er beobachtete das Ende. Schließlich hatte er zumindest das begriffen. Er war sich nicht sicher, was zu Ende ging; aber er kannte den Geschmack von Endgültigkeit und wußte, daß ihm von all den Dingen, die er sich ein Leben lang ersehnt hatte, nichts blieb. Die Regul gingen, und nach ihnen kamen die Menschen.
Jetzt wünschte er sich verzweifelt, sich mit noch mehr Leidenschaft dem Studium menschlichen Verhaltens gewidmet zu haben, so daß er jetzt vermuten könnte, was die Menschen voraussichtlich tun würden. Vielleicht wußten die älteren Kel'ein, die so viel Erfahrung mit ihnen hatten, etwas darüber; und vielleicht gingen sie deswegen davon aus, daß auch er es wissen sollte, und wollten Unwissenheit nicht mit Erklärungen belohnen. Oder vielleicht waren sie hilflos wie er und lehnten es ab, das Offensichtliche ihm gegenüber zuzugeben. Das konnte er ihnen nicht übelnehmen. Es war nur so, daß er einfach nicht zugeben wollte, daß nichts getan werden konnte, daß keine Vorbereitungen getroffen werden konnten, während die Regul so verzweifelt und ängstlich in Sicherheit flohen. Er wußte mit all dem Glauben, der bei seinem kleiner werdenden Vorrat an vertrauenswürdigen Dingen geblieben war, daß das Kel letztlich Widerstand leisten würde; aber sie würden sterben müssen, wenn das der Fall war. Ihr Geschick war groß, größer als das aller anderen lebenden Kel'ein – so glaubte er wenigstens. Aber die neun waren auch zu alt und zu wenige, um den massierten Angriffen der Menschen lange standhalten zu können.
Die Vorstellung überkam ihn immer wieder, so schrecklich und unwirklich wie der Fortgang der Regul aus seinem Leben – die Vorstellung von der Ankunft der Menschen, von menschlicher Sprache und menschlichem Schritt, die in der Heiligkeit des Edun Schreins widerhallten, von Feuer und Blut und zehn verzweifelten Kel'ein, die versuchten, die She'pan mit der Waffe gegen eine Horde schändender Menschen zu verteidigen.
Brüder, Schwestern , wollte er die Kel'ein fragen, ist es möglich, daß es noch eine Hoffnung gibt, die ich nicht zu erkennen vermag? Und dann dachte er wiederum: Oder, o Götter, ist es möglich, daß unsere She'pan wahn sinnig geworden ist? Brüder, Schwestern, seht, seht doch die Schiffe! Unser Weg führt fort von Kesrith. Bringt die She'pan zur Vernunft. Sie hat vergessen, daß es hier noch welche gibt, die leben wollen. Aber so etwas konnte er den Ältesten und Eddan nicht sagen; und letztlich würde er sich für solche Worte vor Intels Angesicht verantworten müssen, und das würde er nicht ertragen können. Er konnte nicht mit ihnen argumentieren, konnte mit ihnen nicht diskutieren, wie sie es im geheimen unter sich taten. Die Ältesten und Intel – alle außer Melein und ihm – erinnerten sich noch an Nisrens Tage, an das Leben vor dem Krieg. Damals hatten sie die Hilfe der Regul angenommen, waren dem Untergang von Nisren entkommen – und jetzt lehnten sie diese Hilfe ab, wie sie es in Besprechungen beschlossen hatten, von denen er, der nicht zu den Ehemännern gehörte, ausgeschlossen war. Er beharrte auf dem Glauben, daß die Ältesten vernünftig waren. Sie waren zu ruhig und zu sicher, um verrückt sein zu können.
Vor dreiundvierzig Jahren war so etwas auf Nisren geschehen. Ein Regul-Schiff, das She'pan Intel rettete, hatte die heiligen Pana und die Überlebenden des Edun nach Kesrith gebracht. Die Ältesten sprachen nicht von jenem Tag, sogar die Lieder schenkten ihm kaum Beachtung. Es war ein Schmerz, der mit ihren sichtbaren Narben geschrieben war und im Geheimnis ihres Schweigens.
Scham? fragte er sich mit einem Stich im Herzen, weil er schlecht von ihnen dachte. Scham über etwas, was sie auf Nisren taten oder nicht taten? Scham darüber, daß sie überlebt hatten, und der Wille, den Fall einer weite ren Heimatwelt nicht zu überleben? Manchmal vermutete er, daß das der Fall war, und der Schrecken wuchs und biß in ihm wie ein fremdartiger
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