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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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Mann mit Handschellen. Ganz ehrlich, ich weiß genau, was du meinst, weil mein Geist sich gestern bei einer Taube neben einer Eiche aufhielt und zusah, wie ein Mädchen in einer schwarzen Jacke etwas auf eine weiße Karte schrieb.
    Ich war nicht wirklich anwesend, als wir zum Grab gingen und die Kränze ablegten und als Sandra den Grabstein aus Marmor berührte und mit den Fingern die goldene Schrift nachzog.
    »Wir werden dich niemals vergessen«, flüsterte sie, und ich sah seine braunen Augen zu mir heraufstarren, Stuart, als sie die Worte auf ihrem Kranz vorlas. »Immer in meinen Gedan ken. Immer in meinem Herzen. Frohe Weihnachten, mein geliebter Sohn.«
    Nun musste ich etwas sagen, und ich öffnete den Mund, der gar nicht mein Mund war. »Frohe Weihnachten.« Und im selben Moment trieb die Hitze der Wahrheit mir die Röte ins Gesicht.
    Ich wollte nicht dort sein. Und ich wäre auch niemals hingegangen, wenn Sandra nicht bei mir zu Hause aufgetaucht wäre und dreimal geklingelt hätte.
    »Ist Zoe da?«, hörte ich sie sagen, und ich erstarrte, oben in meinem Zimmer.
    »Ähm …«, sagte Mum überrascht. »Ja. Ja, ist sie. Komm doch rein, Sandra.«
    »Ich will nicht bleiben, danke. Nur kurz mit Zoe sprechen.«
    Ich hörte, wie Mum die Treppe hochkam, und warf mich schnell zu Boden, um vielleicht noch unter mein Bett zu kriechen, aber Mum streckte den Kopf durch die Tür, bevor ich verschwinden konnte. Und dann ging ich natürlich mit nach unten, und natürlich war ich höflich, und natürlich sagte ich Ja, als Sandra mich bat, mit zum Grab zu kommen, obwohl mein Hirn so laut NEIN brüllte, dass sie es eigentlich hätte hören müssen.
    »Bist du sicher, Schatz?«, fragte Mum mich besorgt, und ich sagte ihr mit den Augen, dass ich nicht mitgehen wollte.
    »Aber sicher«, antwortete Sandra statt meiner. Sie war noch dünner geworden, Stuart, ihr Gesicht sah aus wie ein Totenschädel, und ihre Finger waren knochig, und der Mahagonischimmer war ganz aus ihren Haaren verschwunden. »Sie will ihn doch am Grab besuchen, nicht wahr?« Ich wagte es nicht zu widersprechen, deshalb schluckte und nickte ich und merkte dabei, dass ich kaum noch Luft bekam. Wut packte mich. Und auch meine Schuldgefühle waren wieder da. Sie gurgelten in meinem Magen herum und verursachten Schmerzen, und die habe ich jetzt immer noch, so ein dumpfes Pochen im Bauch.
    Vielleicht hat er da auch die Wahrheit reingeschrieben. Ich weiß, es hört sich verrückt an, Stuart, aber so fühlt es sich manchmal an, als seien die Worte in meine Eingeweide geritzt, die jetzt rot und wund und geschwollen sind und vielleicht sogar bluten. Und ich kann die Schmerzen nur lindern, die Worte verschwinden lassen, indem ich sie aufschreibe. Sie dir schreibe. Ich bin heute sehr müde, doch ich tue es trotzdem. Ich beginne mit dem Tag nach Dots Unfall.
    TEIL SIEBEN
    Ich trödelte an der Verandatreppe herum, weil das Wetter so scheußlich war, und Mum bot an, mich zur Schule zu fahren.
    »Ich will nicht, dass du jetzt zu allem anderen auch noch eine Erkältung kriegst.«
    Ihr Gesicht sah verkniffen aus, und sie hatte violette Schatten unter den Augen. Es regnete in Strömen, typisch englischer Regen aus pechschwarzen Wolken, und Mum fuhr so langsam, dass ein Nachbar uns anhupte, weil er vorbeiwollte. Mum zuckte zusammen und murmelte etwas vor sich hin, so mürrisch, als habe sie sich die ganze Nacht herumgewälzt und kein Auge zugetan.
    Die Scheibenwischer kämpften gegen die Wassermassen, und wir fuhren durch riesige Pfützen, und draußen rannte Lloyd entlang, mit angeklatschtem Fell, nur noch halb so groß wie das dicke Viech, das auf dem Straßenschild gehockt hatte. Ich hätte alles dafür gegeben, wieder auf der Mauer zu sitzen und zu sagen: »Hunde sind jedenfalls nicht so dumm, im Regen rumzulaufen.« Zum x-ten Mal fragte ich mich, ob Aaron mein Handy entdeckt und sich vielleicht so furchtbar mit Max gestritten hatte, dass die beiden sich am Ende geprügelt hatten.
    Mum beugte sich so weit vor, dass ihr Kopf fast an die Windschutzscheibe stieß. Dot saß fest angeschnallt auf dem Rücksitz, hielt sich das Handgelenk und verzog jämmerlich das Gesicht und beobachtete, ob Mum das auch registrierte. Sie musste heute nicht zur Schule gehen, und Soph hatte daraufhin auch gleich über Halsschmerzen geklagt. Mum hatte ihr in den Rachen geschaut, bevor wir aufbrachen, aber nur gemeint: »Ich kann da nichts Ungewöhnliches sehen. Und Fieber hast du auch keins.«
    Als

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