Ketchuprote Wolken
weigerte sich rundweg.
»Die Mädchen sind jetzt größer, sie brauchen dich nicht mehr so wie früher!«, sagte Dad am Samstagmorgen zum zwanzigsten Mal.
»Schau doch, was mit Dot passiert ist!«, entgegnete Mum und spuckte geräuschvoll Zahnpasta ins Waschbecken. »Ich muss zu Hause sein!«
»Für wen denn eigentlich?«
»Was soll das heißen?«
»Die Mädchen sind in der Schule, Jane. Sie brauchen dich tagsüber nicht. Für wen also willst du zu Hause sein?«
Wasser rauschte. »Ich bin Mutter, oder nicht? Es ist meine Pflicht, zu Hause zu sein.«
»Du kannst Mutter sein und trotzdem in einer Kanzlei arbeiten. Teilzeit. Du musst nicht jede Sekunde des Tages zu Hause sein. Früher hast du auch beides geschafft.«
»Du weißt doch genau, was dann passiert ist!«, schrie Mum, und ich setzte mich im Bett auf und horchte, weil ich wissen wollte, wovon die Rede war. »Du weißt, was passiert ist, als ich wieder zu arbeiten anfing, Simon!« Ich hörte, wie sie wütend die Tür der Duschkabine aufriss. »Das Risiko werde ich nicht mehr eingehen. Machst du mir jetzt Platz, damit ich duschen kann?«
Soph tauchte am Fußende meines Betts auf. Ihre Haare standen wirr in alle Richtungen ab.
»Sie lieben sich nicht mehr.«
Ich zog mir die Decke über den Kopf, weil ich unbedingt noch die paar Minuten im Bett genießen wollte, bevor ich zu meiner Schicht in der Bücherei losmusste. »Doch, na klar«, sagte ich. »Die Liebe ist nur begraben.«
»Unter was?«
»Geldsorgen und Jobsorgen und Großvatersorgen …« Ich verstummte und fragte mich, ob das wohl allen Paaren so ging. Und wie und wann das passierte. Irgendwie musste ich an meine Großeltern auf diesen Schwarzweißfotos denken, und dann sah ich Mum als Stern am Himmel, und ihr silbriges Licht erlosch, als Dad sich abwandte.
»Ich will nie erwachsen werden«, verkündete Soph, und genau das dachte ich auch. Sie hockte sich auf mein Bett. »Nie niemals.«
»Du willst den Rest deines Lebens neun Jahre alt sein?«, fragte ich unter der Decke hervor.
»Nein. Ganz bestimmt nicht. Neun ist am allerschlimmsten.«
»Du willst also kein Kind sein, aber auch nicht erwachsen?«, fragte ich.
»Genau. Ich will – was bleibt noch übrig?«
Ich zog die Decke ein Stück herunter. »Der Tod.« Ich lachte, doch Soph stimmte nicht mit ein.
»Ich würde eine tolle Leiche sein«, sagte sie nach einer Weile und verschränkte die Arme vor der Brust. »Würde bestimmt Spaß machen, eine Weile in einem Sarg zu liegen.«
»Dir wäre garantiert langweilig.«
»Nö.«
»Doch. Außerdem würdest du mir fehlen.«
Soph streckte die Arme aus wie ein Zombie. »Ich würde von den Toten auferstehen und dich besuchen«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Aber nur dich«, fügte sie dann in normalem Tonfall hinzu. »Mum und Dad nicht. Und Dot erst recht nicht.«
In der Bibliothek ordnete ich zuerst die Bücher im Bereich Geschichte in chronologischer Reihenfolge. Wie am Abend mit dem Feuer gab es auch hier keinen dramatischen Szenenaufbau. Im einen Moment war Aaron nicht da, und dann saß er plötzlich an einem Tisch, wenige Meter von mir entfernt. Ich hielt mich am Regal fest und blinzelte vermutlich zehnmal, um absolut sicherzugehen, dass ich mir das Ganze nicht einbildete. Ich spähte durch eine Lücke im Nationalsozialismus, direkt über einem Hakenkreuz, und beobachtete, wie Aaron seine Tasche öffnete, einen Notizblock herausholte, die Seiten durchsah und dann zu schreiben anfing.
Ich setzte ein Lächeln auf und ging auf seinen Tisch zu, überlegte es mir im letzten Moment jedoch anders und verschwand wieder hinter dem Regal. In meinem Bauch tobten Schmetterlinge. Das war vielleicht feige, Stuart, aber ich hatte Angst, dass er mich für eine arrogante Tussi halten könnte, nachdem ich mit seiner Telefonnummer davongerannt war und ihn nicht angerufen hatte. Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte, ohne Aarons Bruder zu erwähnen und die Tatsache, dass Max und ich vor den Spinden fünf Minuten lang herumgeknutscht hatten.
Aaron kaute auf seinem Kuli und schrieb etwas an den Rand des Blocks. Dann schaute er auf, und ich duckte mich rasch. Mein Herz schlug wie verrückt. Dann richtete ich mich ganz langsam wieder auf und spähte erneut durch die Lücke. Mein Nacken war ganz verkrampft, und mein Atem zitterte in meiner Nase. Aaron schrieb weiter, und seine Schultern wirkten so stark in seinem weißen T-Shirt, das so hell leuchtete wie nichts anderes in der Bücherei und
Weitere Kostenlose Bücher