Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Differentialgleichungen konstruiert. Als wissenschaftlicher Berater des Präsidenten überreicht er ihm den Bericht persönlich.
Ende November des gleichen Jahres legt Werner Heisenberg dem Heereswaffenamt eine Mitteilung über den aktuellen Stand der Uranforschung vor. Diebner möchte wissen, wann er mit den neuen Waffen rechnen kann. Denn inzwischen hat sich die deutsche Wehrmacht mit dem russischen Winter einen neuen, unbarmherzigen Feind eingehandelt. Soldaten und Kriegsgerät versinken fünfzig Kilometer vor Moskau in Schlamm, Eis und Schnee. Der Blitzkrieg ist vorüber. Nach zwei Jahren Kernspaltungsforschung ohne fassbares Ergebnis scheint sich Nervosität unter den Militärs zu verbreiten. Heisenberg ist bemüht, die Skepsis zu zerstreuen, ohne sich unter Zeitdruck setzen zu lassen: «Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass grundsätzlich eine selbsttätige Anlage gebaut werden kann … dieses Hauptziel [muss] möglichst rasch erreicht werden …» [Wal 2 :370].
Am 6. Dezember 1941 treffen sich die Mitglieder des amerikanischen Uran-Komitees in Washington, um unter der Leitung von Vannevar Bush die Forschungsaktivitäten in Berkeley und in New York neu zu organisieren und zu beschleunigen. Am selben Tag befiehlt General Grigori Schukow seinen hundert Sowjetdivisionen die Gegenoffensive und beginnt, die deutschen Truppen erstmals Richtung Westen zurückzudrängen. Am Tag darauf greift die japanische Luftwaffe den amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii an. 24 Stunden später erklärt Roosevelt Japan den Krieg. Und ab dem 11. Dezember sind auch Deutschland und die USA Kriegsgegner.
Wie groß die Vorbehalte gegenüber dem Uranverein bei General Emil Leeb, dem Chef des HWA, inzwischen tatsächlich sind, wird den Koryphäen Paul Harteck und Carl Friedrich von Weizsäcker schmerzhaft deutlich, als sie plötzlich ihren Einberufungsbefehl in den Händen halten. Ihr Status der Unabkömmlichkeit wegen kriegswichtiger Forschung ist ohne Vorwarnung aufgehoben worden. Heisenbergs guten Beziehungen zu hohen Militärs haben sie es zu verdanken, dass der Befehl wieder rückgängig gemacht wird. Offenbar will das Heereswaffenamt die Sprengstoffgewinnung aus Uran neu bewertet wissen. Dabei deutet sich ein schrittweiser Rückzug aus dem Projekt an. Kurt Diebner weiß, dass an eine Atomwaffe erst zu denken ist, wenn eine gut funktionierende Uranmaschine den Bombenstoff erbrütet. Aber niemand hat in Deutschland jemals Plutonium zu Gesicht bekommen, geschweige denn untersuchen können. Das spezifische Gewicht von Element 94 ist unbekannt, und daher sind Vorausberechnungen seiner kritischen Masse schwierig. Die Schätzungen liegen zwischen zehn und hundert Kilogramm. Auch die Größenordnung der Plutoniumgewinnung im Reaktor bleibt ungewiss. Damit ist die Hoffnung auf eine bald einsatzbereite Atomwaffe für den Krieg unrealistisch. Und daher scheint Diebner bei nüchterner Betrachtung auch der wehrtechnische Einsatz einer Uranmaschine als Antrieb für Bomber, Schlachtschiffe und U-Boote die naheliegendere Lösung zu sein [Wal 2 :371]. Eine Konferenz aller Uranvereinsdirektoren soll die Zukunft des deutschen Atomprogramms klären.
Das O. K. für Vannevar Bush hat Roosevelt mit schwarzer Tinte auf einen unscheinbaren Zettel geschrieben, datiert vom 19. Januar 1942. Der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte hat in diesen Tagen keine Zeit für lange Briefe. Nur so viel rät er dem Empfänger: «Ich denke, Sie sollten das lieber in Ihrem Safe aufbewahren» [Rho:390]. Genau zu dem Zeitpunkt also, da in Deutschland das Heereswaffenamt das Interesse am Uranverein zu verlieren beginnt, wird in Amerika eine gewaltige Maschinerie in Gang gesetzt, um eine nie dagewesene Massenvernichtungswaffe zu produzieren. Am nächsten Tag, am 20. Januar 1942, wird in Berlin ein weiteres großindustrielles Vernichtungsprojekt auf den Weg gebracht, das keine historischen Vergleiche zulässt. Auf einer Konferenz am Wannsee organisieren 15 Staatssekretäre, hochrangige SS-Offiziere und leitende Gestapo-Beamte die «Endlösung der Judenfrage».
Familie Fermi wohnt in einem hübschen Häuschen im New Yorker Vorort Leonia. Im Fußboden des Kohlenkellers haben Laura und Enrico in einer nächtlichen Aktion ein Bleirohr versenkt, in dem ein Teil des Nobelpreisgeldes steckt. Noch sind sie italienische Staatsbürger und befürchten, in diesen Kriegszeiten als feindliche Ausländer eingestuft zu werden, deren
Weitere Kostenlose Bücher