Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Szilard trete auf die Straße, um gleich wieder im Hotel zu verschwinden und es dann drei Tage nicht mehr zu verlassen. Dennoch bitten sie um Verstärkung. Die Handlungen des Beobachteten seien nämlich unvorhersagbar. Gäbe es zum Beispiel «mehr als einen Ein- oder Ausgang in einem Gebäude, benutzt er mit hoher Wahrscheinlichkeit den am ungünstigsten gelegenen. Daher halten wir es für ratsam, alle Ausgänge zu bewachen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren» [Lan:252].
Der spätere Chemie-Nobelpreisträger Edwin McMillan hat im Frühjahr 1940 aus bestrahltem Uran das erste echte Transuran Neptunium isoliert, das nach zwei Tagen in Plutonium zerfällt – eine folgenschwere Entdeckung, die ihn letztlich auch nach Los Alamos geführt hat. Doch offenbar gibt es ein Datum, dem McMillan eine noch größere Bedeutung beimisst. Am 17. September 1943 tritt aus seiner Sicht die entscheidende Wende in der Geschichte der Atombombe ein. An diesem Tag schreckt der erste große Knall die Bewohner der Mesa aus ihrem friedlichen Idyll. Auf dem Gelände der Anchor Ranch, einem enteigneten Anwesen am Südende des Hochplateaus von Los Alamos, hat der eigenwillige Physiker und Sprengmeister Seth Neddermeyer eine kleine Forschungsstation eingerichtet. Hier arbeitet er mit McMillans Unterstützung an einem eher ungewöhnlichen Bombendesign. Zu diesem Zeitpunkt liefern noch vier hintereinandergeschaltete Dieselgeneratoren den elektrischen Strom für die Mesa. Sie sind mitsamt dem grauhaarigen Techniker, der als Einziger mit den Tücken der Maschinen vertraut ist, aus einem aufgegebenen Bergwerk in Colorado herangekarrt worden [Bad:18].
Auf der Aprilkonferenz ist eigentlich nur eine Form der Bombenkonzeption diskutiert worden: die nach der sogenannten Geschütz-Methode. Dabei soll eine kleine Kugel aus Uran-235 wie ein Geschoss in eine größere Masse Uran-235 gefeuert werden. Aus zwei räumlich getrennten unterkritischen Teilmassen entsteht so eine kritische Masse, die sofort explodiert. Dabei streben die Kräfte aus dem Inneren des Bombenbehälters nach außen. Neddermeyer schlägt nun als Alternative die Implosionsmethode vor. Hier rast eine durch Sprengstoff erzeugte Druckwelle von außen auf den Bombenkern zu und ist stärker als der innere Druck, sodass das Objekt in sich selbst zusammenfällt. Die Kollegen reagieren skeptisch. Oppenheimer hingegen lässt Neddermeyer gewähren. Und so schleppt Edwin McMillan an einem Spätsommertag eine offene Kiste mit dem pulverförmigem Explosivstoff Trinitrotoluol, auch TNT genannt, durch Dornengestrüpp zum improvisierten Schießstand auf der verlassenen Anchor Ranch in der Nähe eines kleinen Canyons. Plötzlich erstarrt er, weil ihm bewusst wird, dass ihm eine glimmende Zigarette im Mundwinkel hängt [Bad:17].
Auf einer Zugfahrt nach Washington muss Otto Robert Frisch in Richmond, Virginia, umsteigen. Als er auf die Straße tritt und die Auslagen vor einem Obstgeschäft sieht, bricht er in hysterisches Gelächter aus: «Pyramiden von Orangen, die von hellen Azetylenflammen [angestrahlt] wurden!» [Frs:186]. Ein unbegreiflicher Anblick nach Jahren «kriegsbedingter Kargheit» und Verdunkelungsvorschriften in England. Frisch ist mit dem Dampfer Andes in die USA gekommen, der fernab aller Schifffahrtsrouten einen Zickzackkurs hielt, um deutschen U-Bootangriffen auszuweichen und um die «wahrscheinlich größte Ladung an wissenschaftlichen Gehirnen, die je den Ozean überquerten» [Frs:185] sicher nach Newport News, Virginia, zu bringen. Verstärkung aus dem Vereinten Königreich für das Manhattan-Projekt unter der Leitung des Neutron-Entdeckers James Chadwick.
Anfang Dezember 1943 wird Frisch nach Los Alamos geschickt, wo ihn Robert Oppenheimer persönlich begrüßt: «Willkommen in Los Alamos, und wer zum Teufel sind Sie?» [Frs:190]. Der erste Interpret der Kernspaltung wird im Big House untergebracht, dem ehemaligen Hauptgebäude der Schule. Dort trifft er auf viele Junggesellen, während für die verheirateten Mitarbeiter Fertighäuser aus Holz für je vier Familien errichtet werden. Robert Oppenheimer und seine Frau Kitty leben mit ihrem Sohn Peter in der Bathtub Row, die so heißt, weil hier die einzigen Häuser stehen, die mit Badewannen ausgestattet sind. Es sind die einstigen Wohnungen der Internatslehrer. Die geheime Gemeinde auf dem Hügel wächst rasanter, als ihr Organisator es geplant hat. Glaubte Oppenheimer im Frühjahr noch, mit rund hundert erstklassigen
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